Die Kuppel des Himmels: Historischer Roman (German Edition)
kämpften heftig der Schmerz um den Verlust und die Erkenntnis, dass seine geliebten Eltern Ketzer gewesen waren. Aus dem Labyrinth der Wahrheiten und der Pein fand er keinen Ausweg. Gott, der Instinkt oder der Überlebenswille trieb ihn auf ein Schiff, denn in Tortosa würde er am Schmerz ersticken.
Später begriff er, dass er seine Eltern verraten und getötet hatte. Doch auch sie hatten ihn im Stich gelassen, weil sie verstockte Ketzer geblieben waren, statt sich für Gottes Botschaft zu öffnen.
Plötzlich sah Giacomo Licht, und das Licht fiel auf die Ruine der alten Basilika, die er vor sich sah. Dann wurde es erneut dunkel, und er entdeckte wieder seine Eltern. Diesmal aber war er noch sehr klein. Er lernte gerade laufen, indem er zwischen den geöffneten Armen von Mutter und Vater hin- und herstolperte. Sie fingen ihn immer wieder rechtzeitig auf, sodass er nicht hinstürzte. Er fühlte sich sicher, sicher in ihren starken Armen, die ihn hielten, so wie die vier mächtigen Arme der Vierung eines Tages den Himmel tragen würden.
Ohrenbetäubend leise, während er ganz in die Arme seiner Mutter zurückfand, begann er zu singen: » Jitgadal vejitkadasch sch’mei rabah. B’allma di v’ra chir’usei v’jamlich malchusei, b’chjeichon, uv’jomeichon ,uv’chjei dechol beit Jisroel, ba’agal u’vizman kariv, v’imru: Amein. Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amein.«
Aus den Tiefen seines Geistes, der sich von seinem Körper löste, kamen ihm die hebräischen Worte des Kaddisch als die einzigen Worte, die er noch zu sprechen vermochte, als räumten das Spanische, Italienische und das Latein dem Hebräischen den einzig legitimen Platz. Was machte es schon, dass er dieses Gebet nur in Gegenwart eines Minjan, von zehn jüdischen Männern, verrichten durfte? Waren sie denn nicht alle da: sein herrlicher Vater, seine beiden würdevollen Großväter, seine vier Onkel, der kluge Rabbiner, der lustige Bäcker, der strenge Koschermetzger? Reichten sie ihm nicht hilfsbereit die Hand, wo er sich gerade von seinem Körper und seiner irdischen Last befreite? Nahmen sie ihn trotz seines Verrates auf im himmlischen Jeruschalaijm? Sprecht Amein.
53
Rom, Anno Domini 1527
Um ihn herum wurde geplündert. Landsknechte drangen in die Kirchen, Paläste und Wohnhäuser ein und raubten, was sie an Edelsteinen, Gold und Silber fanden. Ascanio ließ seinen beiden Freunden freie Hand. Er verstand sie ja nur zu gut. Und eigentlich sollte er handeln wie sie. Schließlich müsste auch er für das Alter zusammenraffen, was sich ihm bot. Im Elend würde er verrecken, ohne dass sich jemand um ihn kümmern würde, wenn er zu alt war fürs Kämpfen oder in einem Gefecht zum Krüppel geschlagen wäre. Es sei denn, er hätte den Notgroschen zusammengeraubt.
Die Gelegenheit, die reichste Stadt der Welt auszurauben, würde sich ihm nie wieder bieten. Doch auf dem Petersplatz überfielen ihn sogleich Erinnerungen, die ihn lähmten. Vor fast zwanzig Jahren war er mit Bramante in die Krypta der Basilika gegangen und hatte das gefesselte Mädchen gesehen und sich mit verhaltenem Zorn den Forderungen des katalanischen Kardinals gebeugt. Der Anblick der gefesselten Unschuld hatte ihm fast das Herz zerrissen. Je mehr er von der Gewalt sah, umso stärker stieß sie ihn ab.
Bedächtig ging er die Stufen zur Kirche hinauf. Er stieg über geschändete Menschenleiber, die meisten Kleriker und Bedienstete, aber Frauen und Kinder. Manche offensichtlich vergewaltigt. Er kannte den Blutwahn nur zu gut, der sich einstellte, wenn man über Stunden gemordet, sein Leben verteidigt und dabei die Kameraden fallen gesehen hatte. Alle Reflexe des Menschen gehorchten nur einer einfachen Rechnung: töten oder getötet werden. Wer so weit war, konnte nicht mehr aufhören, bevor er vor Erschöpfung zusammenbrach. Er bekam nicht genug vom Blut, das er vergoss, nicht genug von den Schreien, die er hörte, weil er sie verursachte. Weil Ascanio diesen Rausch kannte, wusste er, wie er ihm entkommen konnte.
Nun trat er durch die Pforte in das Atrium. Die grüne Wiese war rot. Insekten hielten einen Festschmaus. Keinen der Toten sah er an, er wusste nur zu gut, dass er das Leid weit von
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