Die Landkarte des Himmels
doch kein Kutscher», brummte Wells verärgert und nahm einen Sekretär in Augenschein, der in einer Zimmerecke stand und auf dem er das Gesuchte gleich fand. «Hier sind Papier und Tinte, Agent Clayton. Sie brauchen nicht die Tapeten von den Wänden zu reißen oder die Dielenbretter anzuheben.»
«Gut, gut, wenigstens etwas …», knurrte Clayton und riss ihm die Sachen aus der Hand. Dann ging er zum Wohnzimmertisch und fegte mit einer ausholenden Armbewegung die beiden dort stehenden Kerzenleuchter hinunter. «Da wir uns beide hier nicht auskennen, müssen wir die Route also aus dem Gedächtnis nachzeichnen. Mal sehen …, wenn sich die Kathedrale hier befindet und dort die Waterloo Bridge …»
«Hören Sie, Clayton», unterbrach Wells ihn mit bedrückter Stimme. «Sie glauben nicht, dass wir hier lebend rauskommen, oder?»
Der Agent schaute ihn überrascht an.
«Wie kommen Sie darauf? Ich bin sicher, mit etwas Glück und einem …»
«Hören Sie auf, Clayton! Ich habe gesehen, was Sie für ein Gesicht gemacht haben, als Murray sagte, er werde Miss Harlow wohlbehalten nach New York bringen …»
«Ah, da verwechseln Sie was, mein Freund.» Clayton lächelte. «Meine Skepsis bezog sich nicht auf die Möglichkeit, lebend aus London rauszukommen, sondern darauf, dass New York noch ein sicherer Ort sein könnte.»
Wells starrte ihn sekundenlang fassungslos an. Doch dann musste er erkennen, dass diese Möglichkeit latent auch in seinen Gedanken stets vorhanden gewesen war. Bei den anderen möglicherweise ebenso, nur hatte keiner sie auszusprechen gewagt, denn das hätte bedeutet, zuzugeben, dass es keinen Ausweg mehr gab. Nur Agent Clayton traute sich natürlich, so etwas ins Auge zu fassen.
«Sie wollen damit sagen … Die Marsleute könnten auch New York überfallen, und viele weitere Städte. Mein Gott …»
«Die Möglichkeit besteht», erwiderte Clayton, auf das Blatt Papier konzentriert, das er mit seiner verbeulten Prothese auf dem Tisch festhielt. «Und als solche müssen wir sie in Betracht ziehen … Nein, die Brücke ist ein Stück weiter oben …»
«Aber dann …», murmelte Wells trotz Claytons Desinteresse an dem Gespräch, denn er musste das Grauen in Worte fassen, «dann ist alles sinnlos, was wir tun. Wenn die Invasion überall auf der Erde stattfindet, welchen Sinn hat es noch, Fluchtpläne zu schmieden?»
Clayton schaute auf und warf Wells durch den schwarzen Vorhang seiner Haarsträhne einen vernichtenden Blick zu.
«Für eine einzige Sekunde Leben lohnt sich alles, Mr. Wells. Und mit jeder gewonnenen Sekunde vervielfachen wir die Möglichkeiten, auch die nächste zu gewinnen. Ich rate Ihnen, nur daran zu denken», sprach er feierlich und wandte sich wieder seiner improvisierten Karte zu. «Wo, zum Teufel, liegt bloß Waterloo Bridge?»
Während Murray die Tür bewachte, zog Emma sich drinnen erstaunlich schnell um. Nicht gewohnt, einen Kleiderwechsel ohne Hausmädchen vorzunehmen, brachte ihr Kostüm sie an den Rand der Verzweiflung, weshalb sie es schließlich mit einer silbernen Schere einfach aufschnitt. Dann zog sie ihr Reitkostüm an, das aus Paris kam und aus einem taillierten Jäckchen und einem Hosenrock mit blassgrünem Gürtel bestand. Danach steckte sie ihr Haar zu einem flachen Knoten zusammen, musterte ihr jungenhaftes Aussehen im Spiegel und fragte sich, wie sie so wohl auf Murray wirken mochte. Sie wollte das Zimmer schon verlassen, als ihre Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt wurde, das aus einem der Koffer herausragte.
Sie wusste gleich, was es war, zögerte jedoch einen Moment, die Hand schon auf der Türklinke, bevor sie zurücklief, vor dem Koffer auf die Knie sank und den Gegenstand an ihre Brust drückte, als könne er an der Luft zu Staub zerfallen. Sekundenlang kniete sie so und wiegte ihn in ihren Händen; dann löste sie vorsichtig das rote Band und entrollte ihn feierlich auf dem Boden. Die Landkarte des Himmels, die ihr Urgroßvater für seine Tochter Eleanor gemalt hatte, ließ sich ohne Widerstand ausbreiten und knisterte dabei freundlich wie dünnes Holz im Feuer eines Kamins. Sie schien keinerlei Groll zu hegen, weil sie jahrelang nicht angefasst worden war. Emma musste an den Moment zurückdenken – eine Ewigkeit war das her –, als sie sich entschlossen hatte, sie mit in ihr Reisegepäck zu packen, das sie zusammenstellte, um ein paar Wochen bei ihrer alten Tante in London zu verbringen. Warum hatte sie das getan, war die Karte doch
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