Die Landkarte des Himmels
seit Jahren nicht mehr als eine harmlose Albernheit für sie? Wozu sollte sie auf einer Reise gut sein, deren einziger Zweck es war, den unerträglichsten aller Männer zu demütigen? Sie hatte keine Antwort auf diese Fragen. Jetzt freute sie sich jedoch, die Karte mitgenommen zu haben, sie noch einmal anschauen zu können, vielleicht zum letzten Mal.
Emma fuhr mit dem Finger über die vertraute Zeichnung, wie sie es als Kind schon getan hatte, folgte auf der dunkelblauen Oberfläche jeder einzelnen Maserung, deren Gesamtheit ihr das zauberhafte Aussehen eines Himmelsmeeres gab. Einer dieser zarten Linien folgend, stieß sie auf die Sonne und fühlte fast, wie sich ihre Fingerkuppe angenehm erwärmte. Danach legte sie ihre Fingerspitzen auf eine Federwolke und stellte sich die klebrige Konsistenz einer Zuckerwatte vor, fand dann einen Sternenhaufen, dessen eisiges Glitzern die Haut kitzelte. Als Nächstes musste sie einigen bemannten Luftballons ausweichen und lächelte still in sich hinein, als sie die verblüfften Blicke der Passagiere angesichts dieses unvermutet auftauchenden riesigen Fingers sah. Schließlich erreichte sie eine der Ecken der himmlischen Karte, wo die freundlichen Männlein mit den spitzen Ohren und den gegabelten Schwänzen auf einem Schwarm rötlich schimmernder Reiher durch den Weltraum ritten, auf den Rahmen zu, der die ganze Karte einfasste und hinter dem bestimmt ihr märchenhaftes Zuhause lag. Ihr märchenhaftes Zuhause …
Regungslos verharrte Emma über die Karte gebeugt, den Finger noch auf der Ecke, den Nacken zart gerundet wie ein Mädchen, das sein Spiegelbild im bewegten Wasser eines Baches sucht. So vergingen die Sekunden. Sie wollte die Karte zusammenrollen und aufstehen, doch etwas zwang sie, auf den Knien zu bleiben, sich still und selbstvergessen in der Zeit zu verlieren. Und dann begann tief in ihrem Innern ganz langsam ein dichtes, warmes Schluchzen an die Oberfläche zu steigen wie eine sich immer mehr erwärmende Honigblase, die jeden Moment zu platzen drohte. Emma stützte sich schwer auf beide Hände, den Körper vorgebeugt, als müsste sie erbrechen. Sie atmete hechelnd mit offenem Mund, sog gierig den ganzen Schmerz in sich ein, der um sie war, die ganze Enttäuschung, die ganze Angst, die ganze Sinnlosigkeit des Lebens. Und als sie ganz voll davon war, als ihr Herz voller Wehmut und Verzweiflung einen Schlag lang aussetzte, da brach sie über der Landkarte des Himmels zusammen, sank wie eine geköpfte Blume darauf nieder und ließ dem schmerzenden Schluchzen freien Lauf, ließ es in einem rauschenden Strom hinausfließen, ließ sich selbst mitfließen, nur hinaus aus diesem zuckenden Körper ohne jeden eigenen Willen.
Da wurde die Tür aufgerissen, und ein von Furcht gepeinigter Murray stürmte ins Zimmer, entschlossen, sich jedem Grauen entgegenzuwerfen.
«Was zum Teufel ist hier los? Geht es Ihnen gut, Emma?», fragte er krank vor Sorge und wachsam um sich schauend, ob kein Gegner in Sicht war, den er aus dem Fenster werfen konnte.
Als er sich vergewissert hatte, dass außer ihnen niemand im Zimmer war, kniete er neben Emma nieder und legte ihr behutsam seine Pranke auf die bebende Schulter. Emma weinte noch immer, doch ließ die Heftigkeit allmählich nach, und das eigene Schluchzen besänftigte sie. Murray hob sie sanft in die Höhe und legte ihren Kopf an seine Schulter, dann schlang er schützend seine Arme um sie. Sein Blick fiel auf die Karte, die ausgebreitet wie eine Picknickdecke auf der Erde lag. Beide betrachteten sie schweigend eine Weile, in der Emma sich langsam beruhigte.
«Was ist das für eine Zeichnung, Emma?», fragte Murray schließlich mit unendlich sanfter Stimme, als fürchte er, seine Worte könnten sie zu neuen Tränen rühren.
Emma seufzte und fuhr sich mit der Hand über die feuchten Wangen.
«Das ist die Landkarte des Himmels», sagte sie mit dünner Stimme, «die mein Urgroßvater, Richard Locke, gezeichnet hat. Er hat sie für meine Großmutter gemalt, diese hat sie meiner Mutter weitergeschenkt und die wiederum mir. Alle Frauen in unserer Familie haben sich so das Universum vorgestellt.»
«Und darum haben Sie geweint? Nun ja …», sagte Murray, «träumen ist was Schönes.»
Emma hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. Ihre Gesichter waren so nah beieinander, dass Murray das salzige Aroma ihrer Tränen riechen und sogar die Feuchtigkeit auf ihrer Haut spüren konnte.
«Ja, das weiß ich jetzt. Ist es nicht schrecklich,
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