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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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wirklich stimmen, dass in den schlimmsten Momenten die besten Seiten eines Menschen zum Vorschein kamen? Nein, sagte er sich, wenn er nur ein bisschen daran kratzte, würden die wahren Gründe zum Vorschein kommen, die jeden bewegten, ihn zu begleiten und damit das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Was anderes konnte er sich einfach nicht vorstellen, zumal er selbst nie zu einer solch großherzigen Geste fähig wäre. Aber wenn es doch so war? Wenn sie ihm wirklich nur helfen wollten? Er musterte einen nach dem anderen. Den arroganten Spezialagenten Cornelius Clayton, der offenbar gewillt war, diese zusammengewürfelte Herde zu beschützen, und wenn es ihn das Leben kostete. Emma Harlow, die alles mit erstaunlicher Haltung nahm und in deren Augen jetzt ein ganz besonderer Schimmer lag, wie von einem Tautropfen, der geduldig auf einem Grashalm darauf wartet, dass die Sonne ihn zum Glänzen bringt. Und schließlich Gilliam Murray, den Herrn der Zeit, den Menschen, den er am meisten hasste auf dieser Welt und den die Liebe so weit verändert hatte, dass er jetzt bereit war, ihm zu helfen. Vielleicht irrte er sich auch, dachte er. Vielleicht interessierte es überhaupt keinen von ihnen, ob er Jane fand oder nicht. Aber wäre es nicht großartig, es doch zu glauben?
    «Danke», stieß er schließlich mit vor Rührung brüchiger Stimme hervor.
    Im selben Moment knickten Spezialagent Cornelius Clayton die Beine ein, und er sank besinnungslos zu Boden. Äußerst verstimmt starrten sie alle auf den schlaffen Körper zu ihren Füßen.
    «Ich hasse es, wenn er das macht», knurrte Murray.

XXX
    Der anbrechende Tag zog mit unerträglicher Langsamkeit am Himmel herauf. Und in diesem Kirchenschummerlicht streckte sich London verängstigt und unter Schmerzen wie ein Hund, der zum ersten Mal verprügelt worden ist. Auf ihrem Marsch durch die Euston Road hatten die Kampfmaschinen einige Gebäude zerstört, darunter auch Claytons Häuschen, doch zum Glück war die Falltür nicht beschädigt worden. Die Umgebung sah trostlos aus: Viele Häuser waren nur noch rauchende Trümmer, überall sah man umgekippte und großenteils zerbrochene Kutschen. Nur Murrays Kutsche war auf wundersame Weise unversehrt geblieben, und die Pferde befanden sich noch an derselben Stelle, an der man sie angebunden hatte, als wären sie später erst mitten in diese Orgie der Zerstörung hineingesetzt worden. Dass dies der Anfang vom Ende der Menschheit war, machten ihnen bald die verbrannten Leichen klar, die überall herumlagen wie verkohlte, kaum noch menschenähnliche Schaufensterpuppen, deren Asche die aufkommende morgendliche Brise zu verwehen begann. Clayton mit sich schleppend, den sie nur mit Mühe durch die Falltür hatten hieven können, mussten sie immer wieder grausig verkrümmten Leibern von Verbrannten ausweichen, bis sie schließlich die Kutsche mit dem pompösen «G» auf dem Wagenschlag erreichten.
    Die Entscheidung darüber, was mit Agent Clayton geschehen sollte, war angesichts des heraufziehenden Tages ziemlich schnell getroffen worden. Am praktischsten schien es, Clayton in seiner sicheren Höhle zurückzulassen, anständig auf eines der Sofas gebettet und mit einer Nachricht, dass er ohnmächtig geworden war, dass sie aber auf jeden Fall wieder zurückkommen und nach ihm schauen würden, nachdem sich herausgestellt hatte, ob Wells Witwer war oder nicht. Doch die Stunden, die sie mit ihm zusammen verbracht hatten und in denen der Lauf ihres Schicksals immer wieder in neue Richtungen gelenkt worden war, hatten ihren Sinn fürs Praktische verwirrt. Auf ihrem Ausflug zum Hügel konnte ihnen alles Mögliche zustoßen, und da sie nicht wussten, ob es ihnen gelingen würde, in den sicheren Keller zurückzukehren, entschieden sie, dass sie Clayton dort nicht allein lassen konnten. Denn eines war allen klar: Bei dem, was sie erwartete, gehörten sie zusammen. Gegen jede Logik also, die ihr Leben bis zur Ankunft der Invasoren aus dem All bestimmt hatte, schleppten sie den Spezialagenten aus seinem Versteck und vergaßen auch nicht, seinen Hut mitzunehmen.
    Obwohl die Kampfmaschinen verschwunden waren und eine befremdliche Stille über den Straßen lag, hörte man immer noch dumpfe Explosionen, die aus benachbarten Stadtvierteln herüberhallten und ihnen deutlich machten, dass die Invasion keineswegs beendet war. Wieder mit Murray auf dem Kutschbock brachen sie in Richtung Regent’s Park auf. Wells seufzte. In wenigen Minuten – so lange, wie sie

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