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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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die außer einem Loch in der Kuppel jedoch keine Beschädigungen aufzuweisen schien. Beim Anblick der Verwüstung, die sich zu seinen Füßen ausbreitete, überkam Wells ein Gefühl von Demütigung; viel mehr als von Furcht. So lange hatte es gedauert, diese riesige Stadt zu erbauen, in der Abertausende von Menschen ihr Dasein auf Erden bewältigten, ohne zu wissen und daran zu denken, dass dies für das Universum vollkommen bedeutungslos war und es bloß einen Tag brauchte, diese Stadt zu zerstören.
    Im selben Augenblick drang eine helle Frauenstimme durch die trostlose Stille.
    «Bertie!»
    Wells fuhr herum. Und dann sah er sie über den Hügel auf sich zulaufen, mit erhitztem Gesicht, mit wehendem Haar, hysterisch vor Freude und lebend, vor allem lebend. Jane hatte überlebt, hatte dem Tod ein Schnippchen geschlagen, und obwohl sie wahrscheinlich bald sterben würde, genau wie er und alle anderen, lebte sie jetzt und war noch nicht gestorben.
    Als er sie auf sich zulaufen sah, erwog Wells die Möglichkeit, dasselbe zu tun, um sich dann in einer leidenschaftlichen Umarmung zu vereinen, sich der hemmungslosen Romantik hinzugeben, die diese Szene erforderte. Sein praktisches Denken jedoch hatte sich solcher Art von Gesten stets verweigert. Das galt besonders, wenn Jane es im Alltag von ihm verlangte, wo er solches Liebesromangetue als lächerlich empfunden hätte, als einen Misston in der prosaischen Partitur häuslicher Routine. Dennoch, einmal im Leben sollte so eine Geste gerechtfertigt sein, war vielleicht sogar unerlässlich, zumal man ja Publikum hatte, das sich betrogen fühlen würde, wenn die Szene anders endete. In dem Gefühl, allgemeine Enttäuschung heraufzubeschwören, wenn er es nicht täte, trabte Wells also los, Jane entgegen, seiner Frau, der Person, die ihm auf der Welt am meisten bedeutete. Jane schrie vor Glück, während die Entfernung zwischen ihnen zusammenschmolz; Jane flog über das Gras, überglücklich, dass er noch lebte. Denn auch seine Frau hatte die Qualen durchgemacht, sich vorzustellen, dass er schon tot war, während sie noch atmete; und das war Liebe, erkannte Wells jetzt, diese selbstlose, nicht zu unterdrückende Freude, das ganz neue Gefühl, für jemand anderen wichtiger zu sein als für sich selbst, und zu erkennen, dass es jemanden gab, der einem mehr bedeutete als man sich selbst. Wells und Jane, Ehemann und Ehefrau, Schriftsteller und Muse fielen sich inmitten der unvorstellbaren Zerstörung ringsum in die Arme, hielten einander fest auf dem in die Knie gegangenen Planeten, der nur noch den Gnadenstoß erwartete.
    «Du lebst, Bertie! Du lebst!», rief Jane unter Tränen.
    «Ja, Jane», antwortete er. «Wir leben.»
    «Melvin und Norah sind tot, Bertie», sagte sie atemlos. «Es war furchtbar.»
    Wells erfuhr, dass auch sie gelitten hatte, dass Jane eine ähnliche Geschichte erlebt hatte wie er selbst, ein bewegendes Abenteuer, das er sich mit zärtlichem und erleichtertem Lächeln anhören würde, weil er wusste, dass all die gefahrenvollen Erlebnisse ein glückliches Ende genommen hatten, ein Ende in seinen Armen.
    Murray und Emma lächelten glücklich, waren ergriffen von dieser für unmöglich gehaltenen Begegnung, die Morgensonne ließ das taufeuchte Gras auf dem Hügel glitzern, und alles war mit einem Mal so ausnehmend schön, dass Wells sich plötzlich euphorisch und unsterblich fühlte und so unbesiegbar, dass er die Invasoren vom Mars ganz allein mit einem Fußtritt in den Weltraum zurückbefördern könnte. Ein Blick auf die im Todeskampf liegende Stadt unter ihnen reichte jedoch, um zu erkennen, dass sie verloren waren, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Invasoren dem gewaltigen Ziegelsteindrachen dort unten den Todesstoß versetzten und jeden umbringen würden, den die Kampfmaschinen übersehen hatten. Ja, dieser Optimismus, der ihn überflutete, war nichts anderes als das verzweifelte Aufblühen der Rose kurz vor dem Verwelken, kurz bevor sie mit abgeworfenen Blütenblättern verkümmerte. Aber … na und? Er fühlte sich eben so, und er war glücklich darüber, glücklicher denn je.
    Da begann jemand zu applaudieren. Alle wandten sich in die Richtung um, aus der das Geräusch klatschender Hände kam, und sie erblickten nicht weit entfernt einen an einem Baumstamm lehnenden jungen Mann, der die ganze Szene beobachtet hatte.
    «Ich fange an zu glauben, dass die Liebe das Beste ist, was wir Menschen je erfunden haben», sagte er. «Jedenfalls besser

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