Die Landkarte des Himmels
die noch übrig waren – und zu denen zu zählen Charles das zweifelhafte Vergnügen hatte –, waren versklavt worden; billige Arbeitskräfte, nur am Leben gelassen, um sich zu Tode zu schuften, wie er in ausreichendem Maß hatte feststellen können.
Aber wie war das alles nur passiert?, fragte er sich. Das konnte doch gar nicht sein; das konnte nicht in Wirklichkeit passiert sein, sagte er wieder, von Hilflosigkeit und Zweifel innerlich zerrissen. Er hatte doch die Zukunft gesehen; eine Zukunft allerdings, die es ganz offensichtlich nicht mehr geben würde. Irgendwas stimmte an der ganzen Sache nicht. Niemand indes schien seine Meinung zu teilen, nicht einmal Hauptmann Shackleton, der sich auch in diesem Lager befand und den er so oft es ging in seiner Zelle besuchte, als hätte der die Antworten auf alle Fragen. Meistens begnügte sich Shackleton mit einem Achselzucken oder mitleidigen Blick, wenn Charles wieder auf sein Thema zu sprechen kam, wenn er darauf beharrte, dass das da draußen einfach nicht sein
konnte
. «Aber es
ist
schon seit zwei Jahren so, verdammt!», rief er verzweifelt, wenn Charles ihm mit seinen Fragen allzu sehr auf die Nerven ging. Das beendete ihr Gespräch jedes Mal.
Kopfschüttelnd versuchte Charles, seine düsteren Gedanken zu vertreiben. Es war absurd, sich zu quälen, weil man ein falsches Leben zu führen glaubte; besonders an diesem Tag, an dem er nicht eine Minute seiner knappen Zeit verlieren durfte. Sobald es hell wurde, holten die Marsmenschen sie aus den Zellen und trieben sie zur Arbeit, zum kräfteverschleißenden Aufbau der Luftumwandlungspyramide. Es war nur noch knapp eine Stunde bis dahin, und so schleppte sich Charles zu dem kleinen Tisch, den er in einer Zellenecke stehen hatte, setzte sich und holte Briefpapier und Schreibfeder hervor, die er mit fünf seiner am wenigsten kariösen Zähne bezahlt hatte. Er wusste nicht, wofür Ashton, der Gefangene, der alles besorgen konnte, sie brauchte; er wusste nur, dass er sie bald nicht mehr brauchen würde.
Er hatte um das Schreibwerkzeug gebeten, weil er etwas schreiben wollte, für das er noch keinen Namen hatte. Er nahm an, dass man es als Tagebuch würde bezeichnen können, wenngleich er nicht beabsichtigte, das Geschehen eines jeden Tages festzuhalten – das wäre mit einigen Zeilen getan –, sondern eher die Ereignisse, die ihn in seine jetzige Lage gebracht hatten. Wie immer man es nennen mochte, eines war klar: Er musste damit fertig werden, bevor er starb, und das würde nicht mehr lange dauern. Wie um seine Befürchtung zu bestätigen, bekam er wieder einen dieser Hustenanfälle, die ihn in den letzten Wochen mit unschöner Regelmäßigkeit heimsuchten. Als er vorüber war, hatte er einen wunden Hals und brennende Lungen. Mit derselben reflexhaften Bewegung, mit der er in früheren Zeiten die elegante Hemdschleife zu lockern wusste, versuchte er jetzt, das verfluchte Halsband zu lockern. Er konzentrierte sich kurz, saß ein paar Sekunden still und ordnete seine Gedanken, dann schrieb er:
Tagebuch von Charles Winslow
12 .
Februar 1900
Mein Name ist Charles Leonard Winslow, ich bin 29 Jahre alt und Gefangener im Arbeitslager der Marsmenschen in Lewisham. Ich will die wenige Zeit, die mir bleibt, jedoch nicht damit vertun, über mich zu berichten. Es reicht, wenn ich feststelle, dass es mir vor der Invasion an nichts mangelte. Ich hatte eine privilegierte gesellschaftliche Stellung, eine anbetungswürdige Gattin und die perfekte Kombination aus Zynismus und eiserner Gesundheit, die nötig ist, um die Genüsse, die mir jeder Tag zu schenken beliebte, bis zur Neige auszukosten. Jetzt jedoch ist mir dies alles entrissen worden, den Händen ebenso wie dem Herzen, sogar mein Glaube an mich selbst ist dahin. Ich besitze nichts mehr außer der Gewissheit, dass ich keine Woche mehr leben werde. Darum schreibe ich dieses Tagebuch, damit nicht alles, was ich über die Invasoren weiß, mit mir stirbt. Denn ich weiß Dinge über sie, die nicht jeder weiß, und auch wenn sie mir nichts nützen, dort, wo ich hingehe, können sie vielleicht doch für andere von Nutzen sein.
Am wahrscheinlichsten ist es jedoch – auch dessen bin ich mir bewusst –, dass kein Mensch diese Seiten je lesen wird. Ein Blick nach draußen reicht, um das einzusehen. Doch egal, was die Vernunft uns sagt, tief in mir flackert ein winziges Flämmchen Hoffnung, welches mich immer noch glauben lässt, dass wir die Marsmenschen eines Tages
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