Die Landkarte des Himmels
irgendwo in Richtung Chelsea. Die Mädchen zuckten zusammen und begannen sich rasch anzuziehen. Wieder hallte eine Explosion herüber. Eigentlich viel zu nahe. Das war nicht außerhalb von London. Und das konnte nur heißen, dass die Kampfmaschinen den Verteidigungsring durchbrochen hatten und in die Stadt hineinmarschierten. Eine weitere Detonation ließ das ganze Haus erzittern. Inmitten eines Rudels hysterischer Mädchen drängte ich ans Fenster und schaute hinaus. Menschen rannten über die Straße, aber über den Dächern war nichts zu sehen außer einem rötlichen Schein am Horizont der jungen Nacht. Hastig stieg ich in meine Kleider und verließ das Haus mit den wenigen anderen Kunden im selben Augenblick, als offenbar sämtliche Kirchenglocken Londons zu läuten begannen. Ein Mann auf der Straße rief, wir würden von Marsmenschen angegriffen und in Richmond hätten unsere Kanonen eine Kampfmaschine zusammengeschossen. Ich musste lächeln, als ich das hörte. Dennoch schien unsere ruhmreiche Armee nach dieser Heldentat einfach beiseitegewischt worden zu sein. Nach wirren Gerüchten, die auf der Straße zirkulierten, hatten die Marsmenschen auf jeden Fall unsere Stellungen in Richmond und Kingston überrannt. Wegen der näher kommenden Einschläge hatten sich die Leute in Restaurants und Kneipen geflüchtet. Das konnte doch nicht sein!, dachte ich verzweifelt, während ich versuchte, mich nicht von einem vorüberjagenden Karren voller Flüchtlinge überfahren zu lassen. Nein, das konnte nicht sein! Was waren das für Kampfmaschinen? Ich wusste es nicht, aber das war auch nicht wichtig. Auf jeden Fall hätte die Armee sie außer Gefecht setzen müssen.
Während ich mich noch fragte, warum die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten, wurde ich von der nervösen Menge mal in die eine, mal in die andere Richtung gezerrt, sodass ich mir schließlich auf dem nächsten Plätzchen eine Bank suchte und mich darauf niederließ – zitternd und erschrockener, als ich es mir eingestehen wollte. Ich musste nachdenken. Man konnte unmöglich in Erfahrung bringen, was genau vor sich ging; aber es war offensichtlich, dass die Bomben – oder was immer – mit zunehmender Häufigkeit und jedes Mal näher einschlugen. Es war immer das Gleiche: Zuerst vernahm man ein sirrendes Pfeifen in der Luft, dann den Explosionsknall des Einschlags und schließlich das Krachen und Bersten eines einstürzenden Gebäudes. Das Schlimmste aber war, dass diese makabre Symphonie aus allen Richtungen der Stadt – von Ealing bis East Ham – zu kommen schien.
Um mich zu beruhigen, zündete ich mir eine Zigarette an, und die vorüberhastenden Leute warfen mir ob meiner selbstmörderischen Kaltblütigkeit überraschte Blicke zu. Ich schaute hochmütig zurück, obwohl die Panik, die von mir Besitz ergreifen zu lassen ich mich weigerte, in meinem Hals brannte und dem Rauch, den ich inhalierte, einen säuerlich-metallischen Geschmack verlieh. Ich versuchte, die Situation zu begreifen. Warum war das, was der Invasion Einhalt gebieten würde, noch nicht eingetreten? Egal ob es der einfallsreiche Befehl irgendeines Ministers wäre, eine mächtige Geheimwaffe, eine unerwartete Naturkatastrophe, eine guttrainierte Spezialeinheit oder meinetwegen auch ein ganz normaler Mann, der mit einer zufälligen Geste alles wieder in Ordnung brachte. Zwar wusste ich nicht, was passieren sollte; aber ich war überzeugt, dass es etwas geben musste, das die Invasion beendete.
Voller Neugier betrachtete ich die vorüberhastende Menge: Kneipenwirte, die noch nicht einmal ihre Schürze abgelegt hatten, Hausmädchen in Dienstuniform, Kinder hinter sich her zerrende Mütter, Bettler und Bankiers, die Seite an Seite rannten, dazwischen jemand zu Pferd. Alle in Panik und völlig orientierungslos, sodass man kein Prophet sein musste, um zu erkennen, dass keine dieser getriebenen Personen dazu ausersehen war, London zu retten, geschweige denn den ganzen Planeten. Und auch unsere Armee schien dazu nicht in der Lage, wie ich den Gerüchten hatte entnehmen können, deren Wahrheitsgehalt sich durch die immer näher kommenden Einschläge bestätigte. Aber jemand
musste
es tun, und zwar bald! Und wenn mir diese Rolle zugedacht wäre?, fragte ich mich plötzlich. Wenn ich dazu ausersehen wäre, die Dinge wieder geradezurücken und die gewohnte Ordnung wiederherzustellen? Doch dann kam mir der Gedanke ebenso egoistisch wie absurd vor. Was konnte ich denn tun, um die Gegenwart in Ordnung
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