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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Spiegel. Seine Arme hingen entspannt rechts und links des Körpers. Dann schob er die Sicherung zur Seite und drückte den Auslösemechanismus. Die Klinge sprang heraus und glänzte im Licht. Es war ein schönes Messer, ein sibirisches Springmesser, das von den Urkas – der sibirischen Kriminellen-Kaste – nur »Stahl« genannt wurde. Die beste Stichwaffe der Welt. Gestreckt, mit schlankem Schaft und einer dünnen, langen Klinge. Traditionell erhielt man dieses Messer von einem anderen, älteren Kriminellen der Familie, wenn man es sich verdient hatte. Aber welche Bedeutung hatten diese Traditionen noch? Heutzutage wurde dieses Messer gekauft, kopiert oder gestohlen. Er aber hatte dieses Messer vom Onkel bekommen. Stimmte es, was Andrej sagte, dann hatte es immer unter der Matratze des ataman gelegen, bevor er es Sergej vermacht hatte. Wie viele Legenden sich um dieses Messer rankten. Eine besagte, dass das Metall, legte man das Messer unter die Matratze eines Kranken, all das Leiden und die Schmerzen aufnahm und später an den weitergab, den man verletzte. Oder dass dieses Messer besser nicht gestohlen werden sollte, da der Dieb sonst von Unglück und Tod verfolgt werden würde. Aber mit diesen Legenden war es wie mit all den anderen Geschichten und Sagen, die die Urkas so mochten. Alte Romantik und Aberglauben, der langsam ausstarb. Trotzdem hatte er dieses Geschenk mit beinahe übertriebener Achtung entgegengenommen. Warum auch nicht? Wenn er jemandem etwas zu verdanken hatte, dann dem Onkel. Er hatte ihn aus Schwierigkeiten gerettet, in die er geraten war, ihm Papiere beschafft und ihn hierher nach Norwegen geholt. Ja, er hatte ihm sogar den Job bei der Reinigungsfirma im Flughafen besorgt. Die Arbeit war gut bezahlt, trotzdem aber offensichtlich nicht gefragt. Anscheinend war das nichts für Norweger, die beantragten lieber Sozialhilfe. Die kleineren Vorstrafen aus Russland hatte der Onkel irgendwie unter den Teppich kehren können, so dass Sergej jetzt wieder mit blütenreiner Weste dastand. Deshalb hatte er den blauen Ring seines Wohltäters geküsst, als dieser ihm das Geschenk überreicht hatte. Sergej musste anerkennen, dass das Messer, das er in der Hand hielt, mit seinem dunkelbraunen Hirschhornschaft mit dem eingelassenen elfenbeinfarbigen orthodoxen Kreuz sehr schön war.
    Sergej schob die Hüfte vor, wie er es gelernt hatte, spürte die Balance in seinem Körper, hob das Messer an und stach zu. Wieder und wieder. Schnell, aber nicht zu schnell, so dass die lange Klinge auch wirklich bis zum Schaft eindrang – bei jedem Stoß.
    Es sollte mit dem Messer geschehen, schließlich war der Mann, den er töten sollte, Polizist. In Fällen wie diesen waren die Ermittlungen nämlich immer besonders akribisch, so dass man so wenig Spuren wie nur möglich hinterlassen durfte. Jede Kugel stellte eine Verbindung zu anderen Tatorten, zu Waffen oder Personen her, der Schnitt eines glatten, sauberen Messers aber blieb anonym. Schon ein Stich sagte etwas über die Länge und Form der Klinge aus, weshalb Andrej ihm geraten hatte, dem Polizisten nicht ins Herz zu stechen, sondern ihm die Kehle durchzuschneiden. Sergej hatte das bis jetzt noch nie getan, und auch erstochen hatte er noch niemanden, bloß einmal einem Georgier das Messer in den Oberschenkel gerammt, einfach weil dieser Typ Georgier gewesen war. Vermutlich verspürte er deshalb diesen Drang, an etwas Lebendigem zu üben. Wieder gingen ihm die drei Katzen seines pakistanischen Nachbarn durch den Kopf, deren Uringestank ihm jeden Morgen, wenn er ins Treppenhaus trat, in der Nase stach.
    Sergej ließ das Messer sinken, neigte den Kopf, hob den Blick und betrachtete sich selbst im Spiegel. Er sah gut aus; durchtrainiert, bedrohlich, gefährlich, bereit. Wie auf einem Filmplakat. Und aus den Tätowierungen würde bald schon hervorgehen, dass er einen Polizisten ermordet hatte.
    Er stand hinter dem Polizisten. Trat einen Schritt vor. Packte mit der linken Hand die Haare des Mannes und zog den Kopf nach hinten. Setzte die Spitze des Messers links am Hals an, durchstach die Haut und zog die Klinge in einem halbmondförmigen Bogen über die Kehle. So.
    Das Herz würde eine Kaskade aus Blut herauspumpen, doch nach drei Schlägen würde der Druck nachlassen und das Hirn des Mannes die Arbeit einstellen.
    Dann musste er die Klinge in den Schaft schnellen lassen, das Messer in die Tasche stecken und schnell, aber nicht zu schnell den Tatort verlassen. Sollten da Leute

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