Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Magin
Vom Netzwerk:
sie oder ihre Mutter verlassen.
    »Aber er kommt doch wieder?«
    Was sollte sie jetzt sagen? Dem Kind eine Hoffnung rauben, auf die es sich versteift hatte? Und war sie denn nicht selbst überzeugt, dass Joe sich melden würde? Vielleicht empfand er wie sie, hatte aber Furcht, plötzlich auch noch eine Vaterrolle zu übernehmen? Er wirkte nicht wie jemand, der nur auf Eroberungen aus war. Saß er jetzt in seiner Heimatbei einer anderen Frau? Sie versuchte diese Vorstellung zu verbannen.
    »Wenn er kann«, sagte Franziska sacht und küsste Clara auf die Wange, »und wenn er darf, dann meldet er sich wieder.«
    »Haben ihn die beiden Männer weggebracht?«
    Franziska erschauderte: »Aber nein, mein Schatz.«
    »Ist er jetzt in Schottland?«
    Franziska schwieg. Wie gerne hätte sie diese Fragen mit einem beherzten »Ja, er ist in Schottland, aber er kommt wieder, er mag doch deine Mama, und dich mag er ganz besonders!« beantwortet. Sie hatte es mittlerweile aufgegeben, auf ihr Handy zu starren.
    »Wir könnten ja nach Schottland fahren und ihn holen«, schlug Clara vor.
    »Schottland ist weit, und wir wissen nicht, wo er dort wohnt.«
    Und mit wem, dachte Franziska müde. Sie schaltete den Fernseher wieder ein. Sie sah eine gespenstische nächtliche Szene, brennende Häuser, verzweifelte Menschen, viel Rauch und Feuer. War der Laacher Vulkan tatsächlich schon ausgebrochen? Sie tastete hektisch mit der Hand auf dem Sofa umher, fuhr dann mit der Handfläche über den Tisch, schob Claras Katastrophenbilder zu Seite und fand darunter endlich die Fernbedienung. Sie stellte den Ton lauter.
    Die Reportage kam aus Korsika. Es ging um Waldbrände. Franziska atmete erleichtert auf.
    Es ist sehr leicht, immer das Schlimmste zu glauben, dachte sie, wenn man sich im Stich gelassen fühlt. Sie sehnte sich die Zeit zurück, in der es in ihrem Leben niemanden gab außer Clara und ihr selbst. Dann war Hutter in ihr Leben getreten, ganz unauffällig, und plötzlich steckte sie in einem riesigen Wirbel, einem endlosen Schlund, einem kreisenden Mahlstrom.
    »Geh jetzt schlafen«, hauchte sie Clara ins Ohr, dann trug sie ihre Tochter in ihr Bettchen. Sie merkte, wie das tiefe leere Gefühl des Alleingelassenseins über sie hereinbrach, und sie wollte um alles in der Welt verhindern, dass ihre Tochter mit ansah, wie sie weinte.
    Plötzlich stand Franziska da, am Seeufer, auf einer Erdscholle, die sich löste und auf den See hinaustrieb gleich einer schwimmenden Insel. Das Wasser hatte sich in Lava verwandelt und leuchtete golden. Eine Herde Schafe umspielte den treibenden Erdklotz wie eine Schule Delfine, sprang hoch aus den glühenden Wogen und schoss in sie hinein, dabei löste sich ihr Fleisch von den Knochen. Reginald MacGinnis thronte auf einem Kran, die Arme ausgebreitet wie ein Prediger, und dirigierte die ganze Szenerie, als leite er ein Orchester. In das Gebrause und Getöse aus Lava und umherfliegenden Felsbrocken mischten sich die harten Gitarren der Sex Pistols, sie spielten »Submission«. »I drown, drown, you’re dragging me down«, schrie Jonny Rotten mit voller Inbrunst.
    Joe wusste, dass er halluzinierte, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Vermutlich Fieber, überlegte er sich, als er kurzzeitig für wenige Minuten klar im Kopf wurde, dann erschienen wieder die schwimmenden Schafe mit ihrem unheimlichen Wasserballett, sprangen als gesunde Körper aus der glutheißen Brühe und tauchten als Skelette zurück in den See.
    Alles tat ihm weh. Es fühlte sich an, als klaffe in seiner Seite eine meterlange Wunde, als hätte man ihm mit einer Axt in den Rücken gehauen.
    Das Ufer verschwamm vor seinen Augen. Die Bäume wankten, sie waren kaum mehr als diffuse braune Striche mit schemenhaften grünen Büscheln darauf. Er dachte, er müsse sich jeden Augenblick übergeben.
    Ich darf nicht aufgeben!, dachte er. Mit letzter Kraft schob er sich ans Ufer, kroch auf allen vieren über eine kleine Kiesbank, durch eine Schilfzone, bis er ermattet auf einem Pfad im Wald zusammenbrach.
    Er konnte nicht sagen, wie lange er bewusstlos gewesen war, sicherlich nicht lange, niemand hatte ihn in der Zeit gefunden. Er sah hoch zum Himmel, der ganz grau war, mit rosa Schlieren. Es musste schon spät am Abend sein, sehr unwahrscheinlich, dass noch jemand unterwegs war, ein Jogger vielleicht oder jemand, der seinen Hund Gassi führte.
    Es konnte dauern, bis er wieder bei Kräften war.
    Plötzlich schoss es ihm durch den Kopf, wo genau er

Weitere Kostenlose Bücher