Die Lava
braucht. Jeder von uns muss doch völlig autonom agieren können«, erklärte MacGinnis langsam, als rede er mit einem unverständigen Kind. »Ich vertraue Ihnen. Sie waren möglicherweise auf einer Spur, oder haben jemanden verfolgt.«
Schon immer war MacGinnis für Joe ein Rätsel gewesen. Undurchschaubar hinter seiner Maske aus Missmut und Gleichgültigkeit. Seit dem Tod seiner Frau hatte diese gespielte Verachtung und Interesselosigkeit eher noch zugenommen. Was MacGinnis wirklich dachte und fühlte – man wusste es nicht, konnte es bestenfalls ahnen.
Hutter schwirrten allerlei Gedanken im Kopf herum, als er zu seinem Schreibtisch zurücktrottete, um ein paar Sachen herauszunehmen. War es denn so leicht, auf ihn zu verzichten?, überlegte er. War es MacGinnis ganz gleich, was mit ihm geschah? Warum hatte man nicht nach ihm gesucht? War er so wertlos für das Unternehmen?
Die anderen wirkten weniger entspannt als sein Chef: »Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht«, sagte der Nordengländer, »niemand wusste doch, wo Sie waren und warum Sie einen ganzen Tag gefehlt haben.« Er sah zu Boden. »Aber MacGinnis meinte, es sei alles in Ordnung, wir müssten uns keine Gedanken machen.«
»Wir haben dich vermisst«, sagte auch Neal, der von seinem Platz aufgestanden und zu ihm getreten war. Joe konnte echte Besorgnis aus seiner Stimme heraushören. »Wo bist du gewesen?«
»Ich wollte eine deiner Markierungen inspizieren. Ich binaber nicht dazu gekommen. Drei Taucher haben mich angegriffen und auf mich geschossen.« Er tastete nach seiner Wunde. Sie schmerzte kaum noch, das Schlimmste war also vorüber.
»Um Himmels willen! Geht es dir gut?«
»Ja, ich brauche jetzt erst einmal eine Mütze Schlaf, dann bin ich wieder okay. Es ist vermutlich nur ein Streifschuss. Halb so schlimm. Die Angst war schlimmer als die Verletzung.«
»Ich wusste nicht … Hätte ich gewusst … Ich dachte, du wärst auf einem Geheimauftrag.«
»Das ist jetzt keine verletzte Eitelkeit«, raunte Joe Neal zu. »Aber: Warum hat der Alte nicht nach mir suchen lassen? Er meinte, es sei so sicherer. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Auf mich wirkt das eher so, als hätte es ihm mehr Sorge bereitet, in welchem französischen Restaurant er den nächsten Gockel in Weinsauce isst, als mich zu finden.«
»Ich weiß«, meinte Neal, »doch ich denke, er tut nur so. Ich glaube, er wollte uns nicht beunruhigen. Ich habe zumindest gehört, wie er mit ein paar alten Kameraden vom Geheimdienst telefonierte. Er hat dich wohl doch suchen lassen.«
Joe zuckte müde mit den Schultern. Die Situation überforderte ihn. Ja, er brauchte dringend etwas Ruhe.
Joe versuchte trotzdem, sofort einen ausführlichen Bericht zu verfassen, aber es gelang ihm einfach nicht. Je stärker er sich konzentrierte, desto mehr verschwammen die Linien vor seinem Auge. Blitzartig sah er die Harpune vor sich, die auf ihn zuschoss. Er sah das Licht, das in Streifen ins Innere der Hütte flutete. Er brachte nur Halbsätze zustande, die Verben wollten nicht zu den Substantiven passen. Er schaffte es einfach nicht, die Situation neutral darzustellen. Er grübelte, was eigentlich passiert war. Schließlich schrieb er nureine halbe Seite, die zumindest die wichtigsten Fakten enthielt.
Er bemerkte, dass MacGinnis hinter ihm stand. Der Alte erteilte ihm die Absolution. »Ja, gehen Sie jetzt, ruhen Sie sich aus«, sagte der Chef zum zweiten Mal.
Vermutlich hatte MacGinnis recht. Joe fuhr sich durch die kurzen Haare, sie klebten fettig am Kopf. Er sah an sich herunter: Seine Klamotten glichen einem Tarnanzug, fleckig von Erde, Laub, Feuchtigkeit und verkrustetem Blut.
Er hatte die Hand bereits an der Türklinke, da fiel ihm wieder ein, dass Neal meinte, MacGinnis hätte doch durch alte Geheimdienstkumpels nach ihm suchen lassen. Er drehte sich zu seinem Chef um und meinte nur kurz und verhalten: »Danke.«
»Wofür?«, entgegnete MacGinnis. Es klang ehrlich.
Welche Erfrischung ihm die heiße Dusche brachte. Joe genoss es zu duschen. Danach fühlte er sich wie neugeboren, auch wenn die Wunde in seiner Seite noch stach. Aber der Schweiß war abgewaschen, das Blut fortgespült. Er betrachtete sich im Spiegel: Er sah tatsächlich schon wieder recht passabel aus.
Joe wohnte als Einziger in einem Zimmer im Anbau des Klosters Maria Laach. Neal hatte ein Zimmer in dem Dörfchen Glees, das unweit westlich des Sees lag; von dem Nordengländer hatte er mal gehört, dass der irgendwo in
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