Die Lava
damals daraus gelernt, dass man nur durch Blutvergießen kriegt, was man will, ganz gleich, ob man auf der richtigen oder falschen Seite der Moral steht. Und dass man sich immer auf höhere Mächte berufen kann, wenn man Blut vergießen will. So ähnlich hält es die Menschheit, und deshalb bin ich am Laacher See.«
»Glaubst du das tatsächlich?«
»Als Kind glaubte ich es. Aber jetzt nicht mehr. Ich bin da, um zu verhindern, dass das Feuer aus den Wolken zuckt und die Stiere auffrisst und das Wasser vernichtet.«
»Du willst verhindern, dass es zu einer Eruption kommt? Wie soll das gehen?« War Hutter übergeschnappt, hatte sie ihn doch falsch eingeschätzt?
»Nein«, sagte Joe hastig. »Du glaubst, es ginge um einen Ausbruch des Laacher Sees. Das mag sein, aber es geht hier um sehr viel mehr – die Vernichtung des Lebens.«
Franziska sah ihn mit offenem Mund an.
»Hier schlummert eine tödliche Gefahr«, fuhr Joe fort, »und niemand weiß davon. Dafür fürchtet sich jeder«, er zeigte auf die Zeitung, die auf Franziskas Tisch lag – auf demTitelblatt prangte ein Foto mit dem undeutlichen Buckel einer Art Wal –, »vor dem Ungeheuer im Bodensee.« Die Nessie vom Bodensee füllte seit Tagen die Titelseiten und lieferte unsinnige Schlagzeilen.
»Ach Quatsch!«, unterbrach ihn Franziska. »Das nimmt doch niemand ernst. Das ist nur eine Kopie eures Ungeheuers vom Loch Ness. Ein Ungeheuer im Bodensee!«
»Ich fange am Anfang an. Wir Briten beschließen im August 1942 auf einer kleinen Insel vor der schottischen Küste, mit Milzbranderregern zu experimentieren. Die sollen dann mit Aerosol-Bomben im feindlichen Deutschland abgeworfen werden.«
»Um Himmels willen!«
»Es war Krieg … aber es kommt schlimmer. Ein Professor für Bakteriologie an der Universität Oxford, R. L. Vollum, lieferte eine Milzbrandzucht, ein besonders virulentes Bakterium mit der Bezeichnung Vollum 14578. Professor Vollum hat sich übrigens später bei der Erforschung von Tuberkulose und Meningitis verdient gemacht und vielen Kranken geholfen, und seinen Bakterienstamm Vollum 14578 haben noch später die USA im Irak-Krieg gegen Saddam eingesetzt.«
»Was hat das mit dem Laacher Vulkan zu tun? »
»Hab bitte einen Moment Geduld. Gruinard Island, die Insel, auf der diese Versuche stattfanden, hat man von 1978 an gesäubert. Zuerst wurde alles genauestens studiert, dann startete 1986 eine groß angelegte Dekontaminierungsaktion. Zuerst wurde mit Unkrautvernichtungsmittel die Vegetation weggeätzt und darauf abgefackelt. Dann haben wir …«
»Wir?« Sie setzten sich, Franziska ihm gegenüber, mit verschränkten Armen.
»Gleich … Wir haben 280 Tonnen Formaldehyd in 2000 Tonnen Meerwasser gelöst und diese Mischung allmählich über einen Zeitraum von drei Monaten in den Erdboden geleitet. Auf diese Weise wurden alle noch erhaltenen Keimeabgetötet. Zumindest alle, die sich auf der Insel befanden. Im April 1990, nach 48 Jahren, gab das britische Verteidigungsministerium die Insel Gruinard dem Eigentümer als erregerfrei zurück.«
»Also war alles in Ordnung?«
»Fast alles. Im Zuge dieser Aktion entdeckte man zahllose Unterlagen über die Experimente, die in den Archiven verstaubten. Und dabei ist man auf Dokumente und Filme gestoßen, die mit dem See hier zu tun haben: unter anderem 16-mm-Farbfilme, die von den Experimenten gemacht wurden. Sie sind heute alle der Öffentlichkeit zugänglich – bis auf einen. Er versetzte selbst die Regierung in Schrecken.«
»Und was zeigt dieser Film?«
»Schafe, die mit dem Milzbranderreger infiziert sind und jämmerlich verrecken. Diese Schafe verschwinden sprichwörtlich vor der Kamera.«
»Was soll …«
»Sagen wir es einmal so: Wir haben auf Gruinard Island das Wirken der Evolution beobachtet. Bakterien lieben extreme Umweltbedingungen, wie beispielsweise die Mikroorganismen, die in der Tiefsee die Schwefelquellen bevölkern. Nun, der Bakterienstamm, den wir im Krieg zufällig geweckt haben, liebt hohe Temperaturen und übersteht Feuer, er mag sogar das Feuer und vermehrt sich darin erst recht. Und das tut er rasend schnell. Wir entdeckten ihn, als wir die Schafkadaver verbrannten. Dadurch überlebte eine Mutation des Erregers, die hitzeresistent war. Nicht nur das: Sie liebte Hitze. Und sie war tausendmal infektiöser als der Milzbranderreger, den Vollum geliefert hatte. Sie fraß in Sekundenschnelle das Fleisch der Tiere auf, die es infizierte. Es gibt kein Gegenmittel, bis heute
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