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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Wirklich. Elternlos. Mein Vater war wie tot gewesen, lange bevor er ins Grab sank. Und meine Mutter starb daran, dass sie ihn begleitet hatte. Sie ließen ein Kind ohne Augenlicht und eins ohne Prägung zurück.

2
NOVEMBER 2002
    Die Frau, die mir geschrieben hatte, hieß Lupuline Beuzaboc. Ich las den Namen, der auf der Rückseite des Kuverts stand, noch einmal und sagte ihn vor mich hin. Hübsch, Lupuline. Ich sollte bald erfahren, dass er von einer Luzerne mit gelben Blüten stammte. Bei Beuzaboc musste ich an einen Molière’schen Helden denken, eine Theatermaske, ein literarisches Fundstück. Noch nie hatte ich diesen Namen gehört. Mechanisch schlug ich das Telefonbuch von Nord-Pas-de-Calais auf. Kein Beuzaboc. Ich suchte weiter, gab Beuzaboc in meinen Computer ein. Wegen des schroffen Wechsels von Konsonanten und Vokalen und der harten Aussprache dachte ich als Erstes an die Bretagne. Dehnte die Suche auf Paris und andere Städte, Départements, Regionen, ganz Frankreich aus. Nirgends ein Beuzaboc. Also versah ich den seltsamen Familiennamen mit einem Fragezeichen. Natürlich zog ich da noch keine Verbindung zu dem Mädchen mit den roten Schuhen, das mir vor fast zwanzig Jahren am Rande der Gräber immer wieder über den Weg gelaufen war.
    Der Brief kam nicht überraschend. Er war eine Antwort auf die Annoncen, die ich in der Lokalpresse aufgegeben hatte: »Bereiten Sie Ihren Eltern, Freunden oder sich selbst den gebührenden Auftritt! Stürzen Sie sich in ein literarischesAbenteuer der besonderen Art! Sie werden begeistert sein. Und am Ende werden Sie selbst zum Schriftsteller, denn IHR NAME wird auf dem Einband stehen.« Ich bildete mir nicht viel ein auf diese Anzeigen in gelben oder roten Rahmen. Sie waren schnell hingeschrieben, sollten den Stolz der Leute kitzeln, und sie erreichten ihr Ziel.
    Ich war Familienbiograph. Nicht Ghostwriter, sondern Biograph. Ich schrieb nicht anstelle der Auftraggeber, sondern verlieh den Worten einfacher Leute eine Ordnung. Jeden Monat bekam ich fünf, sechs Briefe ähnlichen Inhalts und gleichen Zwecks: Die Verfasser wollten von sich erzählen. »Mein Leben verdient Interesse, genauso viel jedenfalls wie das Leben anderer Menschen. Also warum kein Buch daraus machen?«, schrieb mir eine ehemalige Spinnerin aus Haspres. »Wenn man stirbt, vererbt man seinen Kindern meist Möbel oder Geld. Ich will ihnen den Roman meines Lebens hinterlassen«, erklärte ein alter Lehrer aus Béthune.
    Das Buch der Spinnerin war in acht Sitzungen fertig. Sie redete schnell. Erinnerte sich an alles. Ihre Sprache war klar und knapp. Keine Wortspiele, kein Ideengestrüpp. Subjekt-Verb-Objekt. So trocken wollte sie auch ihr Buch. Ich brauchte den Text nur noch abzutippen. Als es um den Titel ging, schlug ich vor: »Mein Leben – Wort für Wort«. Das gefiel ihr.
    Der Lehrer aus Béthune hatte heimlich verfasste Gedichte in seine Erinnerungen einfließen lassen. Titel: »Kreideverse«? Der Schulmeister nickte.
    Die, die nicht von sich selbst erzählten, schilderten das Wagnis eines Familienunternehmens, gedachten ihrer Mutter oder einer Kindheitsliebe, zeichneten einen Lebensweg nach, ein Dorf, ein Exil. Meine Klientel war nicht allzu anspruchsvoll.Ich sollte nur dafür sorgen, dass ihre Geschichten sich Stück für Stück zu einem Buch zusammenfügten: zweihundert Seiten im Durchschnitt, ein Bildteil in der Mitte, ein guter Titel, Broschur. Eine kleine Druckerei in Lille produzierte die Werke. Ein paar Dutzend Exemplare, manchmal nur eine Handvoll für die nächsten Angehörigen. »Éditions de l’Arnommée« stand auf dem Einband. Eine Idee des Druckers. Weil ein Verlag allein ein Manuskript zum richtigen Buch adelt. Jedes Exemplar war mit Zellophan umhüllt. Das erste öffneten meine Kunden stets mit fliegenden Fingern.

    Lupuline Beuzaboc wollte ihrem Vater den Bericht seines Lebens schenken. Ich würde sie am nächsten Tag oder nächste Woche anrufen. Ich musste noch ein paar andere Texte fertig machen. Ich hatte es nicht eilig.
    ***
    Ich schrieb also die Erinnerungen anderer Leute auf, aber nicht nur. Ich war auch bereit, Texte zu überarbeiten. Manche Kunden brauchten einen Lektor für Selbstverfasstes. Dann korrigierte ich die Syntax, ziselierte Sätze und stellte eine Chronologie her. So redigierte ich etwa das Manuskript einer jungen Mutter, die sich vorstellte, ihr Baby zu erwürgen. Oder das eines Mannes, der seine Frau betrog und die Romanform wählte, um sie in seine Spielchen

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