Die Legenden der Albae: Tobender Sturm (Die Legenden der Albae 4) (German Edition)
die Kunst.«
Albische Weisheit,
gesammelt von Carmondai, Meister in Wort und Bild
Ishím Voróo, Albaestadt Dsôn Elhàtor, 5452. Teil der Unendlichkeit (6491. Sonnenzyklus), Sommer
Irïanora saß wie angewurzelt auf ihrem weißen Ledersessel, die Arme auf die Lehnen gelegt. Die Schneiden werden mich zerteilen wie einen weichen Kuchen.
Ängstlich starrte sie auf den Zettel in Ôdaiòns gepflegter Hand, auf dem die Nachricht ihres Oheims an die Regentin geschrieben stand, die sich mit ihren Worten decken musste. Sonst zuckten die Peitschen nach ihr.
»Frei heraus, meine Liebe.« Modôia ragte vor der Liege auf, die schwarze Peitsche wirkte wie ein Fremdkörper an der grazilen Albin in dem weißen Kleid, umgeben von noch mehr Weiß in dem hohen Raum. Die kleinen Vögel flogen unentwegt von Rose zu Rose an den Wänden und machten mit dem Geräusch ihrer raschen, summenden Flügelschläge die Szene noch unwirklicher. »Ihr kennt die Botschaft. Spannt mich nicht auf die Folter. Das verringert meine gute Laune.« Sie lächelte kalt. »Ihr würdet es bei meinem ersten Schlag unverzüglich spüren.«
Irïanoras Lippen bewegten sich, ohne dass sie nachdachte. »Vor Euch steht meine Nichte«, sprach sie stockend.
Modôias linke Augenbraue zuckte in die Höhe. Der Schlag erfolgte mit solcher Schnelligkeit, dass selbst ein erfahrener Krieger nicht in der Lage gewesen wäre, ihm zu entkommen.
Irïanora sah die Schneiden dicht vor sich flirren, die Spitzen hielten auf ihre Körpermitte zu – ehe sie mit einem Knall die Richtung änderten. Die drei Riemen zuckten zur Seite, dann kam das Brennen an den Schultern und am Hals.
Die Albin schrie zuerst vor Schrecken, gleich darauf vor Schmerzen. Die Klingen wurden zurückgezogen, die rotfeuchten Schneiden hinterließen dünne Linien auf dem weißen Steinboden. Das Oberteil ihres dunkelblauen Kleides rutschte herab, warm sickerte das Blut über ihre Haut. Die Herrscherin hatte den Stoff durchtrennt und nur leichte Schnitte verursacht.
»Ich war schon immer der Ansicht, dass Kleidung die Wirkung der Peitsche nicht richtig zur Geltung bringt«, kommentierte sie. »Zudem: Ihr seid sehr ansehnlich und habt nichts zu verstecken, wenn man von den blauen Flecken absieht.«
»Sie könnte das Vorbild für eine Inàste-Statue sein. Makellosigkeit vom Kopf bis zur Taille, und den Rest sehen wir vielleicht auch noch«, stimmte ihr Ôdaiòn zu und blickte auf den Zettel. »Ihr werdet verstanden haben, dass es nicht die richtigen Worte waren.« Er erhob sich, seine Peitsche rollte sich dabei ab. »Man sollte es malen lassen, wie Ihr da sitzt, umgeben von Reinheit und Blut, und jene Makellosigkeit, die mehr und mehr vergeht wegen Eures Unvermögens, die wahren Worte zu treffen.« Er bewegte die Schlaghand, die Riemen zuckten. »Ach ja: treffen .«
Wieder eine kaum nachvollziehbare Bewegung, schon sirrten die Klingen heran.
Dieses Mal schrie Irïanora zusammen mit den Berührungen, die sie rechts und links an ihrer Seite sowie erneut am Hals fühlte. Ihr Kleid klappte nach der Attacke bis zum Bauchnabel herab, aber sie rührte sich nicht, um ihre Blöße zu bedecken.
Sie schaute Ôdaiòn ins Antlitz – und erkannte Begierde in seinen Augen.
Aus der Beobachtung erwuchs blitzartig die Erkenntnis, dass der Alb sie niemals schwer verletzen würde, weil er noch seinen Spaß mit ihr zu haben gedachte.
Irïanora hielt seinem Blick stand und blieb weiterhin aufrecht sitzen, als wollte sie den Peitschen ein gutes Ziel bieten.
Ôdaiòn hob den Zettel erneut. »Nun, der zweite Versuch«, forderte er sie auf. Ein Lichtstrahl fiel so, dass er das dünne Papier in seinen Fingern traf und es durchleuchtete.
Irïanora sah, dass darauf nichts stand. Mein Oheim sandte keine Nachricht. Sie treiben ein Spiel mit mir. Sie wollen mich in Angst versetzen, mich demütigen. Ist das meine Strafe? Langsam erhob sie sich von ihrem Sessel, Blut perlte über ihre Haut und zeichnete rote Bahnen bis zum Bauchnabel hinab, um im Stoff zu versickern.
»Der Zettel, den Ihr vor Euch haltet, ist leer«, sprach sie mit fester Stimme. »Mein Oheim kann Euch keine Botschaft gesandt haben, weil er es für klüger hält, mich zu schicken, um mit Euch zu sprechen.«
Modôias Blick wurde lauernd. »Weshalb versuchtet Ihr zunächst, die Worte zu erraten, wo Ihr die Wahrheit kanntet?«
»Ihr gabt Euch so viel Mühe, mir einen Schrecken zu bereiten, ich wollte Euch den Spaß nicht nehmen, Herrscherin«, erwiderte
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