Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
ketteten meine Handgelenke zusammen und brachten mich in den Frachtraum, wo sie mich in eine winzige, lichtlose Vorratskammer warfen. Ich hörte das Klirren eines Schlosses, das an der Tür angebracht wurde, gefolgt von ihren auf der Treppe immer leiser werdenden Schritten.
Ich wischte, so gut es im Dunkeln ging, Spucke und Blut ab. Dann weinte ich. Nicht wegen der Schmerzen – auch wenn mir alles wehtat –, sondern wegen der Demütigung. Ich kam mir schmutzig vor und krank, und die Tatsache, dass einige der höchststehenden Mitglieder der rovischen Gesellschaft mich so übel behandelt hatten, war eigentlich nicht zu begreifen. Selbst Adonis in seiner Niedertracht hatte mich nur selten angespuckt.
Und während ich mir gut vorstellen konnte (und es auch schon mal erlebt hatte), dass so etwas in Galgenhafen passierte, hatte ich mich (wenn ich von einem Leben fernab von Dreckswetter träumte) immer mit dem Gedanken getröstet, dass es anderswo bessere, zivilisierte Menschen gab, die sich nicht in eine Meute knurrender Hunde verwandeln würden, weil jemand, der gut mit Worten umgehen konnte, sie aufgepeitscht hatte.
In gewisser Weise war diese Erfahrung schlimmer und erschütternder als die Erkenntnis, dass Roger Pembroke bösartig war und mich umbringen wollte. Denn er war bloß ein einzelner Mann. Das hier aber war ein ganzes Schiff voll mit angesehenen Persönlichkeiten, die mich wie ein Tier behandelt hatten, als ich angekettet und hilflos vor ihnen stand.
Und das Schlimmste stand mir noch bevor. Ich würde ausgepeitscht werden, wahrscheinlich bis ich halb tot war, und dann ohne Essen oder Wasser allein auf einer Insel ausgesetzt.
Vielleicht machten sie sich nicht mal die Mühe, mir vorher die Ketten abzunehmen.
Ich versuchte, nicht daran zu denken. Stattdessen dachte ich an Millicents Lächeln. Und daran, wie ich mit Mung Fangen gespielt hatte, als ich klein war. Und an Marmeladenkuchen. Und wieder an Millicent, nicht einfach nur an ihr Lächeln, sondern ihr Lachen, ihren Gang und die Art, wie das Sonnenlicht in ihrem Haar schimmerte …
Ich schlief ein. Wie lange ich schlief, kann ich nicht sagen.
Ich wachte von einem entfernten Dröhnen auf, das ich zunächst für Donner hielt. Hoffentlich würde das Gewitter meine Aussetzung nicht verzögern, ich wollte das Ganze hinter mir haben!
Doch es war kein Unwetter – ich hörte den Donner nicht wieder. Stattdessen seltsamere Dinge. Die schweren Schritte von Menschen, die über das Deck über mir rannten. Entfernte Rufe. Noch mehr Schritte – unzählige. Danach ein Getrampel, das so heftig war, dass ich es durch die Planken spürte.
Und danach waren Schreie zu vernehmen.
Kurz darauf das immer lautere Gepolter von Füßen, das sich wie eine Flut in das Schiff ergoss, dazu das Getöse und dumpfe Aufschlagen von Gegenständen, die zu Hunderten zerbrachen, begleitet von lauten, rohen Stimmen und vereinzeltem rumgetränktem Gelächter.
Das Chaos dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Schließlich hörte ich jemanden mit schweren Stiefeln die Treppe zum Frachtraum hinunterpoltern.
Eine Axt traf die Tür, und ich sprang in Panik auf. An einem der oberen Scharniere schimmerte ein dünner Spalt Licht durch. Nach zwei weiteren Axtschlägen gegen die Scharniere brach die Tür aus den Angeln.
Vor mir stand ein narbenbedeckter, hässlicher Mann mit dichtem Bart. Er trug einen leuchtend blauen Samtüberrock, den er sich wohl erst vor kurzem zugelegt hatte, denn er passte überhaupt nicht zu den verdreckten Hosen und dem fleckigen Hemd darunter.
Als er mich in Ketten auf dem Boden liegen sah, brach er in Gelächter aus. Dann brüllte er jemandem über die Schulter zu: »Sully! Komm, schau dir das an! Hier hamse ’nen Gefangenen verbunkert!«
Ein zweiter Mann gesellte sich zu ihm. Bis auf die gepuderte Perücke, die ihm schief auf dem Kopf saß, war er ähnlich verdreckt und ungekämmt.
Er lachte ebenfalls. Dann zwinkerte er mir zu.
»Gute Neuigkeiten, Jungchen – das Schiff hat ’ne neue Leitung.«
Ich starrte die beiden Piraten an und fragte mich, was ihr Lächeln wohl zu bedeuten hatte. Kamen sie in freundlicher Absicht? Oder freuten sie sich einfach, jemanden vorzufinden, der bereits in Ketten lag? Weil sie mich so leichter foltern und umbringen konnten? Und wenn sie mich folterten, würden sie die Axt benutzen?
Während ich mir so meine Gedanken machte, verlor der mit der Axt die Geduld und trat gegen meine Fußsohle.
»Steh auf! Heute ist der Tag der
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