Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
starrte sie erneut auf den Schirm. »Das Epizentrum des Bebens lag jedoch unter dem Marmarameer, und so hat es einen sieben, acht Meter hohen Tsunami erzeugt, der erheblich mehr Schaden angerichtet hat, als er die Stadt traf. Deshalb gibt es jetzt einen weiteren gewaltigen Flüchtlingsstrom …«
»Thandie, welche ›nächste Phase‹?«
Thandie blickte auf. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, ihr Blick war unkonzentriert, müde vom zu langen Starren auf den Bildschirm. »Wenn die Meere steigen, Lily, werden wir eine Änderung isostatischer Drücke erleben. Das schiere Gewicht des Hochwassers auf dem bisherigen Festland wird das Land niederdrücken, auf dem es liegt. Die kontinentale Kruste ist nämlich bei weitem nicht so stabil, wie es den Anschein hat. Ähnliches ist zum Beispiel in Skandinavien passiert. Dort haben die Gletscher der Eiszeit das Festland so
sehr abgesenkt, dass es sich selbst zehntausend Jahre nach dem Ende jener Eiszeit immer noch hebt. Und diese Druckveränderungen werden sich besonders in den Schwächezonen der Erdkruste auswirken.«
»Wie an der Nordanatolischen Linie.«
»Ja. Und das ist die Ursache des Tsunamis von Istanbul.«
»Aber das kannst du nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.« Lily war in den letzten paar Monaten so viel mit Wissenschaftlern zusammen gewesen - und davor auch mit Gary in Barcelona -, dass sie mittlerweile ein Gespür für ihre Denkweise hatte. »Es könnte purer Zufall sein. Du hast selbst gesagt, dieses Beben sei schon seit Jahrzehnten fällig gewesen.«
»Ja. Es könnte Zufall sein. Oder das erste Indiz einer neuen Reaktion auf die Flut - einer tektonischen Reaktion.«
»Na großartig. Und bist du dir deiner Sache sicher genug, um das dem Weltklimarat zu erklären?«
Thandie warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen sausten Felder, Farmhäuser und ein Fluss vorbei, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. »Du hast recht. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Der Weltklimarat ist konservativ. Wenn er seinen Abschlussbericht an die Vereinten Nationen und die Regierungen vorlegt, wird er alles streichen, was nicht siebenfach bewiesen werden kann. Genauso hat er’s bei den Vorhersagen zum Klimawandel in all diesen Jahren gemacht. Aber ich werde die Sache trotzdem zur Sprache bringen.«
Lily legte ihr eine Hand auf den Arm; irgendwie fühlte sie sich genötigt, sie zu trösten. »Du musst es doch allmählich satthaben, immer die Überbringerin schlechter Nachrichten zu sein.«
»Ja.« Thandie lächelte gezwungen. »Besonders, wo ich nun doch keinen Buchvertrag kriege, weil niemand mehr Bücher rausbringt.«
Lily tätschelte ihr die Hand. »Nathan wird auf dich hören.«
»Ja. Und das zählt vielleicht mehr als alles andere.«
Das Flugzeug setzte holprig auf und bremste hart. Das Wasser auf der klatschnassen Landebahn spritzte unter den Reifen auf.
30
An der Start- und Landebahn in Newburgh wartete ein AxysCorp-Chopper auf sie. Ein stämmiger Bodyguard des Unternehmens war bereits an Bord.
Die Pilotin flog mit ihnen durchs Hudson Valley zurück. Über Manhattan gingen sie schließlich tiefer hinunter und hielten auf den Central Park zu. Neugierig blickten sie durch die Glaskuppel des Hubschraubers auf eine Insel hinaus, die zu allen Seiten von den steigenden Wassermassen bedrängt wurde. Die großen Gebäude der Stadt waren ein ordentlicher Wald aus Beton, Stahl und Glas, aber man sah Lücken in diesem Wald, ausgedehnte Schuttflächen, wo Gebäude eingestürzt waren und dabei andere mitgerissen hatten. Dennoch lebte die Stadt. Auf den Straßen abseits der unmittelbar überschwemmten Gebiete krochen immer noch Fahrzeuge dahin, sogar glänzende senffarbene Käfer, bei denen es sich um Taxis handeln musste. Auch Boote streiften geschäftig durch die unter Wasser stehenden Straßen und zogen dabei lange Kielwasserfahnen hinter sich her.
Trotz der Gerüchte über einen herannahenden atlantischen Sturm war der Himmel klar und blau, und die Sonne stand noch hoch am Himmel; es war ein strahlender Wintertag. Die Stadt glänzte im Sonnenschein, Millionen von Fenstern glitzerten wie Pailletten, selbst das Wasser, das um
den Fuß der Gebäude Teiche bildete, sah blau und irgendwie hübsch aus. Der Anblick ähnelte einem Postkartenbild des ehemaligen Venedig.
Der Hubschrauber landete auf einem Helipad im Central Park, auf der großen Wiese südlich des Reservoirs. Die Pilotin sagte, dies sei die südlichste Stelle der Insel, wo man gegenwärtig
Weitere Kostenlose Bücher