Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
zurück und trat beiseite.
Grace wollte sich eine Möglichkeit einfallen lassen, aus der Sache herauszukommen, irgendeine Entschuldigung, warum sie dem König nicht gegenübertreten konnte. Aber ihr Verstand war wie erstarrt, und es war bereits zu spät. Der Wächter nahm sie am Arm und führte sie sanft, aber beharrlich durch den Eingang. Ihr Zeh blieb an einer Bodenspalte hängen. Sie stolperte vorwärts, keuchte auf und hörte, wie sich die Tür hinter ihr mit einem lauten Knall schloß.
»Kommt herein, Mylady«, sagte eine tiefe Stimme.
Grace hob den Kopf. Die Wände und der Boden des Gemachs waren mit Teppichen übersät; ein Tisch aus dunklem Holz und mit Krallenfüßen dominierte seinen Mittelpunkt. In dem offenen Kamin toste ein Feuer, und was sie auf den ersten Blick für einen mit Höckern übersäten Fellteppich gehalten hatte, waren in Wirklichkeit dicht aneinandergeschmiegt schlafende schwarze Bulldoggen. Jeder der Hundeschädel war größer als ihr Kopf. Sie hätte sich vor den Hunden gefürchtet, aber eine weitere wilde Gestalt erregte ihre Aufmerksamkeit und ließ sie nicht mehr los.
König Boreas von Calavan war zugleich unwiderstehlich und furchteinflößend. Er war weniger gewaltig als vielmehr kompakt. Seine Anwesenheit wog so schwer in dem Raum, daß sie das Gefühl hatte, ihn gleich in einem Orbit umkreisen zu müssen, wie ein Stück Treibgut, das von einer Schwerkraftquelle eingefangen worden war. Sein Gesicht war ungemein attraktiv, und seine scharfen Augen sprühten Funken wie Feuerstein auf Stahl. Ein paar graue Flecken in seinem gestutzten Bart und dem dunklen, glatt zurückgestrichenen Haar waren zusammen mit einer Reihe feiner Falten um Augen und Nase die einzigen Anzeichen dafür, daß er sich dem mittleren Alter näherte.
Verspätet kam sie zu dem Schluß, daß von ihr irgendeine Art Ehrerbietung erwartet wurde. Immerhin stand da ein leibhaftiger König vor ihr. Sie fing an, einen Knicks zu machen, dann wurde ihr jedoch bewußt, daß sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie die Geste vollendet werden mußte, und verwandelte sie mittendrin in eine unbeholfene Art von Verbeugung. Sie richtete sich wieder auf und erwartete, in den Augen des Königs Verachtung oder Groll zu sehen. Nichts davon traf zu. Statt dessen betrachtete er sie mit einer Intensität, die weitaus beunruhigender war. Es fühlte sich an, als versuchte er, in sie hineinzusehen.
»Erlaubt mir, Euch auf Calavere willkommen zu heißen, Mylady.« Seine Stimme hallte tief in ihrer Brust wider.
Als Erwiderung brachte sie bloß ein ruckartiges Nicken zustande. Sie konnte nicht atmen, eine kalte Hand schnürte ihr die Kehle zu.
Der König verschränkte die Arme. »Ich schätze, die angebrachte Etikette verlangt von uns, lange Begrüßungsformeln und übertriebene Erklärungen unserer überschwenglichen Freude über diese Begegnung auszutauschen, bevor wir über etwas auch nur annähernd Konstruktives sprechen können. Doch ich bin mir nicht sicher, daß ich die Zeit und die Lust für derartige Nettigkeiten habe.« Seine Stimme verwandelte sich in ein Knurren. »Stört Euch das, Mylady?«
Er schleuderte ihr die Frage wie ein Messer entgegen. Grace erinnerte sich an Aryns Ermahnungen und schaffte es irgendwie, nicht zusammenzuzucken. Sie räusperte sich.
»Nein, Euer Majestät. Das tut es nicht.«
Der König betrachtete sie einen Moment lang, dann grinste er. Es schien kein Ausdruck von Fröhlichkeit zu sein. Dazu waren viel zu viele Zähne im Spiel, und sie waren alle viel zu spitz. Boreas kratzte sich am Bart, dann nickte er.
»Ausgezeichnet, Mylady. Betrachtet Euch als höflich begrüßt, denn ich bin wirklich froh, daß Ihr nach Calavere gekommen seid. Und jetzt werde ich keine Worte mehr verschwenden, sondern direkt zur Sache kommen.« Er näherte sich ihr mit fließenden Bewegungen voller Kraft. »Mylady, ich brauche Eure Hilfe.«
War das einer der kläglichen Versuche des Königs, einen Witz zu machen, vor dem Aryn gewarnt hatte? Doch etwas in seinem offenen Gesichtsausdruck verriet Grace, daß es sich keineswegs um einen Witz handelte. Sie verschluckte ihr gezwungenes Lachen.
»Meine Hilfe?«
»Das ist richtig.« Boreas zeigte mit dem Finger genau auf ihr Herz. »Ihr, Mylady, werdet mir helfen, Calavan zu retten.«
37
König Boreas schritt wie ein gefangenes Tier vor dem Kamin auf und ab. Das blutrote Licht flackerte über sein ansehnliches Gesicht und verlieh seinen Zügen zusätzliche Schärfe. Der
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