Die Letzte Spur
zumindest einen britischen Pass, der mir in Ordnung schien. Ich komme natürlich ganz günstig weg, wenn jemand schwarz für mich arbeitet. Aber… vielleicht hätte ich sie weggeschickt. Es war nur eine ähnliche Situation wie letzten Abend. Ein Wochenende stand bevor, eine große Gesellschaft hatte sich angesagt. Ich konnte jeden brauchen, der zu kriegen war. Sie kam praktisch wie gerufen, und dann ist sie geblieben, und … na ja, irgendwann war mir dann ihre Vorgeschichte egal.«
Rosanna packte das Foto wieder weg. Sie war jetzt hellwach. Was auch an dem Kaffee liegen mochte, den sie in kleinen Schlucken nebenher trank und der köstlich schmeckte.
»Sie bezeichneten Elaine als durchgeknallt . Was genau meinten Sie damit?«
Justin überlegte. »Da war so etwas an ihr«, sagte er dann, »etwas… wie soll ich es ausdrücken? Etwas Krankes. Verstörtes. Hysterisches. Depressives. Alles, was Sie wollen. Ich würde sagen, sie wirkte auf mich wie ein ganz schön kaputter Mensch. Welche junge Frau setzt sich nach Langbury in die Wohnung von Mr. Cadwick und sieht ihren Lebensinhalt darin, bei mir im Pub zu arbeiten? Sie hatte überhaupt keine Freunde. Keine Kontakte. Sie erzählte nichts von sich, nie. Es war wirklich so, als sei sie aus dem Nichts gekommen. Nie erwähnte sie Eltern. Oder Geschwister. Freunde, Verwandte, Bekannte. Lehrer, Nachbarn… irgendetwas. Ich meine, selbst der kontaktärmste Mensch kommt nicht umhin, ein paar Bekanntschaften in seinem Leben zu schließen, oder? Aber sie nicht. Als wandle sie allein über diesen Planeten, so kam sie mir vor.«
»Und sie fiel öfter aus?«, hakte Rosanna nach.
»Ja. In gewissen Abständen, und dann stets zwei, drei Tage hintereinander. Sie meldete sich aber immer ab. Wegen Zahnweh, Halsentzündung. Was weiß ich. Komischerweise… hatte ich immer das Gefühl, dass das nicht stimmte. Dass sie nicht körperlich krank war, sondern das nur vorschob. Ich hätte ihr das aber nicht nachweisen können.«
»Was war Ihrer Meinung nach tatsächlich los?«, fragte Marc.
Wieder zögerte Justin. »Ich glaube, dass sie Panikanfälle hatte. Dass sie von Zeit zu Zeit von ihren Ängsten überwältigt wurde. Und dass sie dann das Rattenloch, in dem sie hauste, nicht verlassen konnte.«
»Ihre Ängste?«, fragte Rosanna. »Sie hatte Angst?«
Justin blickte sie erstaunt an. »Ich denke, Sie kennen sie? Ich glaube nicht, dass das irgendjemandem verborgen bleiben konnte. Elli hatte Angst. Vor irgendetwas oder irgendjemandem hatte sie entsetzliche Angst. Sie schrak jedes Mal zusammen, wenn hier die Tür aufging. Manchmal, wenn jemand laut lachte oder grölte, wurde sie plötzlich kreidebleich.«
Er überlegte noch einmal kurz und fügte dann hinzu: »Ich würde so weit gehen zu sagen, dass sie Todesangst hatte. Das war spürbar. Elli hatte Todesangst, aber in der ganzen Zeit ist es mir nicht gelungen, dahinterzukommen, warum das so war.«
3
Geoffrey begriff, dass Selbstmitleid zum Automatismus mit höchst unangenehmen Begleiterscheinungen werden konnte: Eine Zeit lang mochte es die Menschen ringsum in Atem halten, in Schuldgefühle stürzen und damit manipulierbar machen, aber irgendwann richtete es sich gegen einen selbst.
Wer sich zu lange und zu behaglich in der Opferrolle einrichtet, wird wirklich zum Opfer.
Irgendjemand hatte dies einmal zu ihm gesagt, er wusste nur nicht mehr, wer es gewesen war. Eine Schwester, ein Arzt, ein Pfleger? Einer von den Leuten, die sich um ihn kümmerten und ihm beharrlich einzureden versuchten, sein Leben sei trotz allem noch lebenswert. Was es definitiv nicht war, und es stürzte ihn jedes Mal in Wut, wenn sich ein Gesunder anmaßte, einem Kranken zu erklären, dass seine Lage nicht so schlimm sei, wie er glaubte.
Allerdings war an dem Gerede um die Opferrolle und ihre Auswirkungen etwas dran. Denn wenn er, Geoff, sich nicht so tief in seine Mir-ist-alles-egal-Haltung vergraben hätte, verfügte er jetzt über ein Handy, könnte einen versteckten Platz im Heim oder draußen aufsuchen und telefonieren. Stattdessen musste er den verdammten Münzfernsprecher im Flur benutzen und ständig fürchten, dass jemand vorbeikam und neugierig lauschte.
Aus den Jahren mit Elaine besaß er zwar ein Handy, aber dessen Karte war seit Ewigkeiten nicht mehr aufgeladen worden. Mehrfach hatten ihm Schwestern angeboten, dies für ihn zu übernehmen.
»Kommen Sie, Mr. Dawson. Wir laden die Karte für Sie auf! Ist doch viel schöner, wenn Sie
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