Die letzten Tage
gab und die Welt um sie herum aufhörte zu existieren.
Wenn sie seinen Blick richtig deutete, schien er über ihre Begegnung ebenso überrascht zu sein wie sie. „Merle?“, fragte er stirnrunzelnd. Seine Stimme klang tief, aber weich wie Samt. „Nein … Wer bist du?“
Er trat auf sie zu, und Grazia erschrak. Ihr war, als würde sie aus einem tiefen Traum erwachen. Ängstlich stolperte sie einen Schritt zurück. Hatte sie den Verstand verloren, ihn so nah an sich herankommen zu lassen? Sie wusste doch überhaupt nicht, wer er war! Womöglich stand in diesem Augenblick ein eiskalter Killer vor ihr!
Keine Schwäche zeigen! Wenn man seinen Gegner merken lässt, dass man sich fürchtet, hat man schon so gut wie verloren!
Grazia straffte die Schultern. „Kommen Sie keinen Schritt näher!“ Sie schaffte es, ihre Stimme selbstbewusster klingen zu lassen, als sie sich fühlte. Doch damit konnte sie ihn offenbar nicht beeindrucken.
Er kam noch ein Stück auf sie zu. „Du bist die Frau aus meinen Träumen.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Ja, du bist es tatsächlich …“
„Wovon sprechen Sie?“, flüsterte Grazia atemlos. Sie hatte das Gefühl, als würde er bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Es war unheimlich, Angst einflößend – aber das war nicht der eigentliche Grund, warum sie weiche Knie bekam. Dieser Mann hatte irgendetwas an sich, das sie einfach nicht in Worte fassen konnte. Obwohl sie sich einerseits vor ihm fürchtete und deutlich spürte, dass ihn eine Aura der Dunkelheit umgab, fühlte sie sich auf der anderen Seite geradezu magisch zu ihm hingezogen.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte er, ohne auf ihre Frage zu antworten. „Aber wir werden uns schon bald wiedersehen.“
Endlich gewann Grazias Professionalität wieder die Oberhand. „Sie gehen nirgendwo hin!“, erwiderte sie energisch, und das Geräusch einer Polizeisirene, das sich rasch näherte, verlieh ihr zusätzliche Sicherheit.
Die Kollegen kamen. Endlich! Ungeduldig schaute Grazia über die Schulter zum Friedhofstor, durch das sie bereits das blinkende Blaulicht eines Einsatzwagens erkennen konnte.
Als sie den Blick nur eine Sekunde später wieder nach vorn richtete, war der Mann mit den eisblauen Augen verschwunden.
2. KAPITEL
Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber vom Eingangstor des Friedhofs, stand eine im gotischen Stil errichtete Kirche, die seit ein paar Wochen aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen war. Die Pfarrgemeinde hoffte, dass der Einbau einer neuen, farbenprächtigen Fensterrose dem Gebäude eine freundlichere Atmosphäre verleihen und endlich wieder ein paar Gläubige in den sonntäglichen Gottesdienst locken würde. Im Moment allerdings wirkte die düstere Fassade mit ihren fratzenartigen Wasserspeiern, aus denen das Regenwasser in hohen Fontänen auf den Kirchvorplatz schoss, alles andere als einladend.
Auf einem dieser Wasserspeier hockte, in luftiger Höhe, der Mann mit der Narbe. Sein Taufname lautete Zacharias, der war aber für die meisten Menschen zu kompliziert, und so nannte er sich einfach nur Zack. Er verschmolz mit der Dunkelheit, wurde eins mit den Schatten, sodass er vermutlich selbst dann nicht entdeckt worden wäre, wenn jemand direkt in seine Richtung geblickt hätte.
Doch die Menschen unten auf dem Friedhofsvorplatz waren ohnehin mit anderen Dingen beschäftigt.
Das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge hatte, trotz des schlechten Wetters, Schaulustige angezogen. Ein halbes Dutzend Polizeibeamter in Uniform war vollauf damit beschäftigt zu verhindern, dass einige besonders Neugierige die Absperrung durchbrachen.
Zack beachtete sie nicht weiter. Ebenso wenig wie die in weiße Ganzkörperoveralls gehüllten Mitarbeiter der Spurensicherung und ihre Kollegen von der Gerichtsmedizin.
Er hatte nur Augen für sie .
Siestand zusammen mit einem älteren Mann etwas abseits vom großen Trubel auf dem Friedhofsgelände. Es war offensichtlich, dass die beiden miteinander stritten. Dieganze Körperhaltung der Frau – die Art und Weise, wie sie die Arme vor der Brust verschränkte – drückte Protest aus. Die Luft um sie herum schien zu vibrieren, während der Mann, mit dem sie sprach, kühle Gelassenheit ausstrahlte.
Für ihn aber interessierte Zack sich nicht. Es war einzig und allein die Frau, über die er mehr erfahren wollte.
Im ersten Moment ihres Zusammentreffens hatte er geglaubt, Raum und Zeit seien aus den Fugen geraten, und Merle stünde vor ihm. Sie war ihr wie aus dem
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