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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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übergeschnappt und war drauf und dran, dir das auch zu sagen!«
    Er ließ sich nicht beirren. »Was immer du damals empfunden hast - hier, in dem Nottinghamer Motel, wirst du unter meinem hypnotischen Einfluss augenblicklich anderen Sinnes: Zwar hättest du mein Gesicht nicht sehen können, sagst du, aber meine Worte hätten sich für immer in dein Gedächtnis eingebrannt. Warum nicht?... Komm, Charlie! So steht es in deinem Brief an mich!«
    Sie ließ sich nicht vereinnahmen. Noch nicht. Zum ersten Mal, seit Josephs Geschichte begonnen hatte, war Michel unversehens zu einem selbständigen, lebendigen Wesen geworden. Bis zu diesem Augenblick, so wurde ihr klar, hatte sie ihren imaginären Liebhaber unwillkürlich mit Josephs Zügen ausgestattet, mit Josephs Stimme, um seine Tiraden zu charakterisieren. Plötzlich jedoch waren die beiden Männer wie eine Zelle, die sich teilte, waren sie zwei unabhängige und miteinander im Widerstreit liegende Wesen, und Michel hatte in der Wirklichkeit ein Eigenleben bekommen. Sie sah den unausgefegten Vortragssaal mit dem sich aufrollenden Mao-Foto und den zerkratzten Schulbänken wieder vor sich. Sie sah die Reihen von höchst unterschiedlichen Köpfen, vom Afro- Look bis zur Jesus-Frisur und zurück, sah Al im Zustand alkoholisierten Überdrusses zusammengesackt neben sich sitzen. Und auf dem Podium sah sie die einsame, unergründliche Gestalt unseres tapferen Vertreters aus Palästina, kleiner als Joseph und vielleicht auch ein wenig gedrungener, obwohl das schwer zu sagen war, denn er war in seine schwarze Maske und die formlose Khaki-Bluse und das schwarz-weiß gemusterte kaffiyeh gehüllt. Aber jünger- das zweifellos - und fanatischer. Sie erinnerte sich an seine fischähnlichen Lippen, ausdruckslos innerhalb ihrer zottigen Umrandung. Sie erinnerte sich an das rote Taschentuch, das er sich trotzig um den Hals geschlungen hatte, und an die behandschuhten Hände, mit denen er zu seinen Worten gestikulierte. Am deutlichsten jedoch erinnerte sie sich an seine Sprechweise - nicht kehlig, wie sie erwartet hatte, sondern bedächtig und gepflegt, in makabrem Widerspruch zu seiner blutrünstigen Botschaft. Aber ebenfalls nicht Josephs Stimme. Sie erinnerte sich, wie er - ganz anders als Joseph - innehielt, um einen unbeholfenen Satz neu zu formulieren, oder sich um grammatikalische Korrektheit bemühte: » Gewehr und Rü Imperialist ist, wer uns in unserem revolutionären Kampf nicht beisteht…nichts zu tun heißt der Ungerechtigkeit Vorschub leisten...«
    »Ich habe dich sofort geliebt«, erklärte Joseph im selben Ton, so als erinnerte er sich wirklich. »Zumindest sage ich dir das jetzt. Gleich, nachdem der Vortrag zu Ende war, habe ich mich erkundigt, wer du seist, aber ich brachte es nicht über mich, dich vor so vielen Menschen anzusprechen. Außerdem war mir bewusst, dass ich dir mein Gesicht nicht zeigen konnte, und das ist immerhin einer meiner größten Aktivposten. Ich beschloss daher, dich im Theater ausfindig zu machen. Ich zog Erkundigungen ein und verfolgte deine Spur bis nach Nottingham. Hier bin ich. Ich liebe dich unendlich, gezeichnet: Michel.«
    Als gelte es, sie zu entschädigen, gab Joseph sich betont um ihr Wohlergehen besorgt, schenkte ihr nach, bestellte Kaffee -nicht zu süß, wie du ihn magst. Ob sie sich frisch machen wolle? Nein, danke, es geht mir gut. Das Fernsehen zeigte in den Nachrichten ausgiebig einen grinsenden Politiker, wie er die Gangway eines Flugzeuges herunterkam. Ohne dass ein Missgeschick passierte, schaffte er die letzte Stufe.
    Nachdem er sein Soll an Fürsorge erfüllt hatte, sah Joseph sich bedeutsam in der Taverne um, richtete den Blick dann auf Charlie, und seine Stimme war plötzlich ganz aufs Praktische gerichtet. »Ja, also, Charlie. Du bist seine Johanna, seine Liebe. Er ist ganz besessen von dir. Die Bedienung ist nach Hause gegangen, wir beide sitzen ganz allein im Speisesaal. Dein unmaskierter Verehrer und du. Es ist nach Mitternacht, und ich habe viel zu lange geredet, obwohl ich kaum angefangen habe, dir zu sagen, wie es in meinem Herzen aussieht, oder dich nach dir, die ich unvergleichlich liebe, zu fragen, das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, und so weiter und so fort. Morgen ist Sonntag, du hast keinerlei Verpflichtungen. Ich habe ein Zimmer im Motel genommen. Ich mache nicht den Versuch, dich zu überreden. Das ist nicht meine Art. Vielleicht habe ich auch zu große Hochachtung vor deiner Würde. Oder vielleicht

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