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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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doch nicht so gut, wie Sie behaupten, Charlie«, meinte Helga.
    »Bitte, sagen Sie uns, mit wem Sie Kontakt hatten, Miss Charlie«, sagte Mesterbein. »Sofort. Das ist von höchster Wichtigkeit. Wir sind wegen dringender Dinge hier.«
    »Eigentlich könnte sie ja leicht lügen, solch eine Schauspielerin«, sagte Helga und hatte dabei die großen Augen unverhüllt fragend auf Charlie gerichtet. »Eine Frau, die darin ausgebildet ist, zu tun, als ob - wie kann man der überhaupt irgendetwas glauben?« »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, pflichtete Mesterbein ihr bei, als müsse er sich das für die Zukunft merken.
    Ihr Zusammenspiel hatte etwas Sadistisches; sie trieben ihr Spiel mit einem Schmerz, den sie noch gar nicht fühlte. Erst sah sie Helga an, dann Mesterbein. Die Worte entfuhren ihr. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. »Er ist tot, nicht wahr?« flüsterte sie.
    Helga schien sie nicht zu hören. Sie war ganz davon in Anspruch genommen, sie zu beobachten.
    »Oh ja, Michel ist tot«, sagte Mesterbein düster. »Das tut mir natürlich leid. Und Fräulein Helga auch. Es tut uns beiden sehr leid. Und nach den Briefen, die Sie ihm geschrieben haben, nehmen wir an, dass es Ihnen auch leid tut.«
    »Aber vielleicht sind die Briefe auch nur vorgetäuscht, Anton«, erinnerte Helga ihn. Das war ihr schon einmal im Leben passiert, in der Schule. Dreihundert Mädchen, an den Wänden der Turnhalle aufgereiht, die Direktorin in der Mitte, und jede wartete darauf, dass die Schuldige gestand. Mit den besten von ihnen hatte Charlie sich verstohlen umgeblickt, nach der Schuldigen Ausschau gehalten - ist sie es? Ich wette, die da -, sie errötete nicht, sondern sah ernst und unschuldig drein und hatte - das stimmte wirklich und erwies sich später auch als wahr - überhaupt niemand etwas gestohlen. Trotzdem gaben ihre Knie plötzlich nach, und sie fiel einfach hin, fühlte sich von der Taille aufwärts völlig in Ordnung, nur unten gelähmt. Genau das gleiche tat sie jetzt, durchaus nichts Einstudiertes - sie tat es, ehe sie selbst merkte, was mit ihr geschah, noch ehe sie sich auch nur halb über die Ungeheuerlichkeit dessen klar geworden war, was man ihr da gesagt hatte, und noch ehe Helga eine Hand ausstrecken konnte, um sie aufzufangen. Sie stürzte hin und fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden, dass die Deckenbeleuchtung an der Strippe auf und ab sprang. Helga kniete augenblicklich neben ihr, murmelte etwas auf Deutsch und legte ihr tröstend die Hand einer Frau auf die Schulter - eine gütige, spontane Gebärde. Mesterbein bückte sich, um auf sie hernieder zu starren, doch er berührte sie nicht. Er interessierte sich mehr dafür, wie sie weinte. Sie hatte den Kopf auf die Seite gelegt, und ihre Wange ruhte auf der geballten Faust, so dass die Tränen ihr quer übers Gesicht strömten und nicht daran hinunter. Je länger er sie beobachtete, desto froher schienen ihre Tränen ihn zu machen. Er nickte leise, was vielleicht anerkennend gemeint war; er blieb nahe bei ihnen, während Helga ihr aufs Sofa half, wo sie -das Gesicht in den kratzenden Kissen verborgen und die Hände vors Gesicht geschlagen - dalag und weinte, wie es nur Kinder können - und jene, denen das Liebste genommen worden ist. Aufruhr, Zorn, Schuld, Reue, Schrecken: jedes einzelne dieser Gefühle wurde von ihr wahrgenommen wie die Phasen einer beherrschten, gleichwohl jedoch tief empfundenen Darbietung. Ich wusste es, hab’s nicht gewusst, hab’ mir nicht erlaubt, diesen Gedanken zu denken. Ihr Betrüger, ihr mörderischen Betrüger, ihr habt im Theater des Wirklichen meinen heißgeliebten Liebsten umgebracht!
    Irgendetwas davon musste sie laut gesagt haben. Ja, sie wusste, dass sie es getan hatte. Sie hatte ihre abgerissenen Sätze ausgewählt und kontrolliert, noch während der Schmerz sie zerriss. Ihr Hunde, Faschistenschweine, ach, Himmel, Michel!
    Eine Pause, dann hörte sie Mesterbeins unveränderte Stimme sie auffordern, sich doch genauer darüber auszulassen, doch sie ignorierte ihn und fuhr fort, den Kopf hinter den Händen hin und her zu rollen. Sie erstickte, sie würgte, und ihre Worte blieben ihr im Hals stecken und kamen ihr nur stotternd über die Lippen. Die Tränen, der Schmerz, die wiederholten Schluchzer waren kein Problem für sie - die Ursachen ihres Kummers und ihrer Empörung waren ihr äußerst bewusst. Sie brauchte nicht an ihren verstorbenen Vater zu denken, den die Schande ihres Hinauswurfs aus der Schule

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