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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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vorüber. Daneben stand ein leerer Landrover, und neben dem Landrover hing an einer teleskopartig auseinandergezogenen Wäscheleine Babywäsche. Wo hatte sie so eine Wäscheleine schon einmal gesehen? Nirgends. Wirklich nirgends. Sie lag auf ihrem Bett in der Pension, verfolgte, wie der Tag an der Decke heller wurde, lauschte dem Getrippel der Tauben auf ihrer Fensterbank. Am allergefährlichsten ist es, wenn du vom Berg wieder runterkommst, hatte Joseph ihr eingeschärft. Wiederholt hörte sie Schritte draußen auf dem Korridor. Das sind sie. Aber welche sind es? Immer dieselbe Frage. Ein roter? Nein, Officer, ich habe nie im Leben einen roten Mercedes gefahren, um aus meinem Schlafzimmer rauszukommen. Ein Rinnsal kalter Schweiß lief ihr über den nackten Magen. In Gedanken verfolgte sie seinen Lauf vom Nabel zu den Rippen und von da aus hinunter zum Laken. Knackende Dielenbretter, unterdrücktes Aufstöhnen vor Anspannung: Jetzt späht er durchs Schlüsselloch. Die Ecke weißen Papiers tauchte unter der Tür auf. Und wackelte hin und her. Wurde größer. Der Fettsack Humphrey brachte ihr ihren Daily Telegraph .
    Sie hatte gebadet und sich angezogen. Jetzt fuhr sie langsam, nahm weniger befahrene Straßen, hielt unterwegs ein paar Mal vor Läden, so wie er es ihr gesagt hatte. Sie hatte sich schlampig angezogen; mit ihrem Haar war ohnehin kein Staat zu machen. Niemand, der ihre Benommenheit und ihre nachlässige Aufmachung beobachtet hätte, hätte an ihrem Kummer gezweifelt. Die Straße wurde dunkler; kränkelnde Ulmen schlössen sich über ihr, eine alte cornische Kirche duckte sich dazwischen. Sie hielt den Wagen wieder an und stieß das Eisentor auf. Die Gräber waren sehr alt. Nur wenige trugen eine Inschrift. Sie fand ein Grab, das abseits von den anderen lag. Ein Selbstmörder? Ein Mörder? Falsch: ein Revolutionär. Sie kniete nieder und legte ehrfürchtig die Orchideen an jene Stelle, an der ihrer Meinung nach sein Kopf liegen musste. Antrieb: Trauer, dachte sie, als sie in die abgestandene, eiskalte Luft der Kirche trat.
    Etwas, was Charlie unter diesen Umständen getan hätte, im Theater der Wirklichkeit.
    Auf diese ziellose Art machte sie noch eine Stunde weiter, hielt aus keinem ersichtlichen Grund, höchstens, um sich an ein Gatter zu lehnen und auf ein Feld hinauszublicken. Oder um sich an ein Gatter zu lehnen und ins Leere zu starren. Erst nach zwölf Uhr war sie sicher, dass der Motorradfahrer endlich aufgehört hatte, hinter ihr herzufahren. Und selbst dann machte sie noch etliche vage Umwege und saß noch in zwei weiteren Kirchen, ehe sie in die nach Falmouth führende Hauptstraße einbog.
    Das Hotel war eine pfannengedeckte Ranch an der Helford-Mündung, hatte ein Hallenbad und eine Sauna und einen Neun- Loch-Golfplatz mit Gästen, die selbst wie Hotelbesitzer aussahen. In den anderen Hotels war sie bereits gewesen, in diesem bis jetzt noch nicht. Er hatte sich als deutscher Verleger eingetragen und als Beweis einen Stapel unlesbarer Bücher mitgebracht. Die Damen an der Telefonvermittlung hatte er reichlich mit Trinkgeldern versehen und erklärt, er habe internationale Kontakte, die keinerlei Rücksicht auf seinen Schlaf nähmen. Die Kellner und Hoteldiener kannten ihn als großzügigen Gast, der die ganze Nacht über auf zu sein pflegte. Auf diese Weise hatte er unter verschiedenen Namen und Vorwänden die letzten beiden Wochen gelebt, während er Charlies Vorrücken die Halbinsel hinunter auf seiner einsamen Safari verfolgte. Er hatte auf Betten gelegen und an die Decke gestarrt, genauso wie Charlie. Er hatte mit Kurtz telefoniert und war Litvaks Unternehmungen draußen immer um eine Stunde voraus gewesen. Mit Charlie hatte er sehr sparsam geredet, ab und zu eine Kleinigkeit mit ihr gegessen und ihr noch weitere Tricks über Geheimschriften und Kommunikation beigebracht. Er war ebenso sehr ihr Gefangener gewesen wie sie der seine.
    Er machte ihr die Tür auf, und sie ging stirnrunzelnd und wie abwesend an ihm vorüber und wusste nicht, was für Gefühle sie eigentlich haben sollte. Mörder. Schinder. Betrüger. Aber sie hatte keine Lust zu den obligaten Szenen; sie hatte sie alle gespielt, sie war eine ausgebrannte Trauernde. Er hatte sich bereits erhoben, als sie kam, und eigentlich erwartete sie, dass er auf sie zukam und sie in die Arme schloss, doch er versagte sich das. Nie hatte sie ihn so ernst, so beherrscht gesehen. Tiefe Schatten der Besorgnis lagen um seine Augen. Er trug ein

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