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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Kopfsteinpflaster, dann kamen sie in ruhigere Gewässer. Charlie horchte nach dem Geräusch eines zweiten Wagens, hörte jedoch nur, wie ihr Wagen durch die Straßen ratterte und knatterte. Sie versuchte, herauszufinden, in welche Richtung sie fuhren, aber sie hatte bereits die Orientierung verloren. Ohne jede Warnung hielten sie. Sie hatte nicht das Gefühl, dass der Fahrer das Tempo verlangsamt hätte oder irgendwo einparken wollte. Sie hatte dreihundert Pulsschläge bei sich gezählt, zweimal hatten sie vorher angehalten - an Verkehrsampeln, wie sie vermutete. Sie hatte sich Nebensächlichkeiten eingeprägt wie etwa die neue Gummimatte unter ihren Füßen und den kleinen roten Teufel mit dem Dreizack in der Hand, der vom Schlüsselbund herabhing. Der Italiener half ihr beim Aussteigen; ein Stock wurde ihr in die Hand gedrückt, sie vermutete, dass es ein weißer war. Mit viel Hilfe ihrer Freunde schaffte sie die sechs Schritte und die vier Stufen hinauf bis an eine Haustür. Der Aufzug gab einen Triller von sich, der genauso klang wie die Wasserpfeife, die sie im Grundschul-Orchester geblasen hatte, um die Vogelstimmen in der Spielzeug-Symphonie nachzumachen. Diese Leute sind Könner , hatte Joseph sie gewarnt. Es gibt keine Lehrzeit. Du gehst von der Schauspielschule direkt auf die Bühne . Sie saß auf einer Art Ledersattel ohne Rückenlehne. Sie hatten sie die Hände verschränken und wieder auf den Schoß legen lassen. Ihre Handtasche hatten sie behalten, und jetzt hörte sie, wie sie den Inhalt auf einen Glastisch schütteten; es klirrte, als ihre Schlüssel und ihr Kleingeld darauf landeten, und dann gab es einen dumpfen Laut, als das Gewicht von Michels Brieten darauf fiel, die sie auf Helgas Anweisung hin heute morgen geholt hatte. Der Duft von Körperlotion hing in der Luft, süßlicher als Michels und betörender. Der Teppich unter ihren Füßen war aus dicken Nylonmaterial und goldbraun wie Michels Orchideen. Vermutlich waren die Vorhänge schwer und dicht zugezogen, denn die Helligkeit an den Rändern ihrer Brille hatte etwas Gelbliches wie von elektrischem Licht; von Tageslicht keine Spur. Sie waren nun bereits ein paar Minuten im Zimmer, ohne dass ein Wort gesprochen worden war. »Ich brauche den Genossen Mesterbein«, erklärte Charlie plötzlich. »Ich brauche den vollen Schutz des Gesetzes.«
    Helga lachte hingerissen. »Ach, Charlie! Das ist zu verrückt! Sie ist großartig, nicht wahr?« Diese Frage war vermutlich an den Italiener gerichtet, denn Charlie hatte nicht den Eindruck, dass noch jemand anders im Raum war. Doch die Frage blieb ohne Antwort, und Helga schien auch keine zu erwarten. Charlie unternahm noch einen Vorstoß.
    »Die Pistole steht Ihnen, Helga, das muss ich Ihnen lassen. Von jetzt an kann ich Sie mir gar nicht mehr anders gekleidet vorstellen.« Und diesmal erkannte Charlie deutlich den Klang nervösen Stolzes in Helgas Lachen; sie führte Charlie irgend jemand vor - jemand, vor dem sie wesentlich größere Achtung hatte als vor dem Italiener. Charlie hörte einen Schritt und sah ganz am unteren Rand ihres Gesichtskreises die schwarze und auf Hochglanz polierte Spitze eines sehr teuren Herrenschuhs, der zur Begutachtung auf dem goldbraunen Teppich vor sie hingestellt worden war. Sie hörte Atmen und das leise Sauggeräusch, als jemand die Zunge an die oberen Zahne legte. Der Fuß verschwand, und sie spürte einen leichten Luftzug, als ein warmer, parfümierter Körper sehr dicht an ihr vorüberging. Instinktiv zog sie sich zurück, doch Helga befahl ihr, still zu sitzen. Sie hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde, und roch eine von ihres Vaters Weihnachtszigarren. Und wieder warnte Helga sie, doch stillzusitzen - »Ganz still, sonst werden Sie bestraft. Wir fackeln da nicht lange.« Doch Helgas Drohungen waren nichts als eine Unterbrechung von Charlies Gedanken, als sie mit allen ihr bekannten Mitteln versuchte herauszufinden, wer der unsichtbare Besucher war. Sie kam sich wie eine Art Fledermaus vor, die Signale ausschickte und lauschte, wie sie zu ihr zurückgeworfen wurden. Sie musste an die Blindekuh- und Ratespiele denken, die sie zu Halloween auf Kinderpartys gespielt hatte. Riech dies, befühl das, rate mal, wer dich auf deine dreizehnjährigen Lippen küsst.
    Die Dunkelheit machte sie schwindlig. Gleich falle ich vornüber. Zum Glück sitze ich. Er stand am Glastisch und inspizierte den Inhalt ihrer Handtasche, genauso, wie Helga es in Cornwall gemacht hatte. Sie

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