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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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vorüber, die zu zerklüfteten Bergspitzen zerbrochen waren. Sie fuhren an einem Haus vorüber, das dermaßen von Einschüssen durchlöchert war, dass es einer gigantischen Käsereibe glich, die sich vor dem bleichen Himmel im Gleichgewicht hielt. Ein Stück Mond glitt von einem Loch zum nächsten, hielt mit ihnen Schritt. Gelegentlich tauchte ein brandneues Gebäude auf: halb fertig, halb beleuchtet, halb bewohnt - ein Spekulationsobjekt aus roten Tragebalken und schwarzem Glas. »Prag, ich war zwei Jahre. Havanna, Kuba, drei. Sind Sie in Kuba gewesen?«
    Der Junge neben ihr schien sich von seiner Enttäuschung erholt zu haben. »Ich bin nie in Kuba gewesen«, gestand sie. »Jetzt bin ich offizieller Dolmetscher. Spanisch - arabisch.« »Phantastisch«, sagte Charlie. »Gratuliere.« »Ich für Sie dolmetschen, Miss Palme?«
    »Jederzeit«, sagte Charlie, und alle lachten ausgiebig. Die Europäerin war wieder in Gnaden aufgenommen.
    Danny schaltete herunter, fuhr im Schrittempo weiter und kurbelte sein Fenster herunter. Dicht vor ihnen, mitten auf der Straße, glomm ein Kohlebecken, und eine Gruppe von Männern und Jungen in weißen Kaffiyehs und Teilen khakifarbener Kampfanzüge saß darum. Ein paar braune Hunde hatten in ihrer Nähe ein eigenes Lager aufgeschlagen. Sie musste an Michel denken, wie er in seinem Heimatdorf den Erzählungen der Reisenden gelauscht hatte, und dachte: Jetzt haben sie ein Dorf auf der Straße gebaut. Als Danny auf die Lichthupe tippte, stand ein schöner alter Mann auf, rieb sich den Rücken, kam - die Maschinenpistole in der Hand - zu ihnen herübergeschlurft und steckte sein runzliges Gesicht so weit zu Dannys Fenster hinein, bis sie sich umarmen konnten. Die Unterhaltung ging endlos zwischen ihnen hin und her. Da sie niemand beachtete, lauschte Charlie auf jedes ihrer Worte und stellte sich vor, sie könne irgendwie etwas verstehen. Als sie jedoch an dem Alten vorbei sah, bot sich ihr ein weniger angenehmer Anblick: regungslos im Halbkreis stehend, hatten vier von den Zuhörern des alten Mannes die Maschinenpistolen auf den Wagen gerichtet, und keiner von ihnen war älter äs fünfzehn Jahre. »Unsere Leute«, sagte Charlies Nachbar ehrfürchtig, als sie schließlich weiterfuhren. »Palästinenserkommandos. Unser Teil der Stadt.«
    Und auch Michels Teil, dachte sie stolz.
    Es fällt dir bestimmt nicht schwer, sie gern zu haben , hatte Joseph ihr gesagt.
    Charlie verbrachte vier Nächte und vier Tage mit den Jungen und hatte jeden einzelnen, aber auch alle zusammen gern. Sie waren die erste von zahlreichen ›Familien‹ , in die sie aufgenommen wurde. Sie brachten sie ständig woanders unter, wie einen Schatz, immer in der Dunkelheit und immer mit ausgesuchter Höflichkeit. Sie sei so unverhofft eingetroffen, erklärten sie ihr mit bezauberndem Bedauern; es sei »für unseren Captain« nötig, gewisse Vorbereitungen zu treffen. Sie nannten sie »Miss Palme«, und vielleicht dachten sie wirklich, dass sie so hieß. Sie erwiderten Charlies Zuneigung zu ihnen, stellten jedoch nie persönliche oder aufdringliche Fragen, sondern bewahrten in jeder Hinsicht eine scheue und disziplinierte Zurückhaltung, die Charlie auf die Autorität, die sie in Zaum hielt, neugierig machte. Ihr erstes Zimmer lag im obersten Stock eines alten, von Kugeln zernarbten Hauses, aus dem alles Lebendige verschwunden war bis auf den Papagei des abwesenden Besitzers; der Vogel hatte einen Raucherhusten, den er jedes Mal ertönen ließ, wenn sich jemand eine Zigarette anzündete. Sein anderes Kunststück war ein Gekecker wie das Schrillen des Telefons, und er machte es in den Nachtstunden, so dass sie sich an die Tür schlich und darauf wartete, dass jemand an den Apparat ging. Die Jungen schliefen draußen auf dem Treppenabsatz, immer nur einer, während die anderen beiden rauchten, winzige Gläser süßen Tee tranken und sich beim Kartenspiel halblaut wie am Lagerfeuer unterhielten.
    Die Nächte waren endlos, und doch waren keine zwei Minuten gleich. Sogar die Geräusche führten Krieg miteinander, hielten sich erst in sicherer Entfernung, kamen näher, fanden sich zu Gruppen zusammen und fielen dann in einem Scharmützel widerstreitender Geräusche übereinander her - ein Schwall Musik, das Quietschen von Autoreifen und das Aufheulen von Sirenen -, dem tiefste Waldesruhe folgte. Gewehrfeuer erklang in diesem Orchester nur selten: hier ein Trommelwirbel, dort ein Zapfenstreich, gelegentlich das langsame Pfeifen

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