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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Streunende Hunde mit hässlichen Schnauzen wühlten im Abfall oder lagen in der Mittagssonne schlafend auf der Seite. In den Außenbezirken waren die Läden und Wohnungen ärmlich, doch als sie sich dem Stadtzentrum näherten,wurden die Wohnhäuser stattlicher. Der Putz an den Fassaden blätterte ab, die Eisengitter an den Balkonen waren kaputt oder fehlten. Mitchell befand sich hoch genug, um in Wohnzimmer schauen zu können. Einige waren mit Samtvorhängen und kunstvoll geschnitzten Möbeln eingerichtet. Doch die meisten waren kahl, mit nichts als einer Matte auf dem Boden, auf der eine ganze Familie saß und zu Mittag aß.
    Er stieg an der Kartenverkaufsstelle der Indian Railways aus. Im schwach beleuchteten Innern, über dem ein schwarzweißes Gandhi-Porträt schwebte, wartete Mitchell in der Schlange, um sich eine Bahnfahrkarte zu kaufen. Die Schlange bewegte sich langsam voran und gab ihm genügend Zeit, die Abfahrtstafel zu studieren und zu entscheiden, wohin er wollte. In den Süden nach Madras? In die Berge von Darjeeling? Warum nicht bis ganz hinauf nach Nepal?
    Der Mann hinter ihm sagte zu seiner Frau: «Wie ich dir schon mal erklärt habe – wenn wir den Bus nehmen, müssen wir drei Umwege machen. Mit dem Zug ist es viel besser.»
    Es gab einen Zug nach Benares, der um 20.24   Uhr von der Howrah Station abfuhr. Er kam am nächsten Tag mittags um zwölf in der heiligen Stadt am Ganges an. Eine Fahrkarte für die zweite Klasse Liegewagen würde Mitchell etwa acht Dollar kosten.
    Das Tempo, mit dem er die Kartenverkaufsstelle verließ und sich daranmachte, Proviant für seine Reise zu kaufen, glich dem eines Mannes auf der Flucht. Er kaufte sich Mineralwasser, Mandarinen, einen Schokoriegel, eine Schachtel Cracker und ein großes Stück seltsam krümeligen Käse. Er hatte noch nicht zu Mittag gegessen, deshalb ging er in ein Restaurant und aß eine Schale Gemüsecurry und
parathi
. Danach schaffte er es, eine
Herald Tribune
aufzutreiben, undging in ein Café, um sie zu lesen. Da er immer noch Zeit totzuschlagen hatte, machte er einen Abschiedsbummel durch das Viertel und unterbrach den kurz, um sich an einen lindgrünen Gartenteich zu setzen, in dem sich die über seinem Kopf dahinziehenden Wolken spiegelten. Als er ins Guest House zurückkam, war es nach vier.
    Das Packen dauerte anderthalb Minuten. Er warf sein Ersatz- T-Shirt und seine Ersatzhose in seinen Matchsack, genauso seinen Kulturbeutel, die Taschenbuchausgabe des Neuen Testaments und sein Tagebuch. Während er das tat, kam Rüdiger mit etwas Zusammengerolltem unter dem Arm in die Hütte.
    «Heute habe ich das Leder-Ghetto gefunden», verkündete er zufrieden. «Es gibt in dieser Stadt für
alles
ein Ghetto. Ich laufe also herum und finde dieses Ghetto, und mir kommt die Idee, mir eine Superlederhülle für meinen Pass zu machen.»
    «Eine Hülle für deinen Pass», sagte Mitchell.
    «Ja, man braucht doch einen Pass, um der Welt zu beweisen, dass man existiert. Die Leute an der Passkontrolle können dich nicht anschauen und
sehen,
dass du ein Mensch bist. Nein! Sie müssen auf ein kleines Foto von dir gucken. Erst
dann
glauben Sie, dass du existierst.» Er zeigte Mitchell die Rolle gegerbtes Leder. «Vielleicht kann ich dir auch eine machen.»
    «Zu spät. Ich reise ab», sagte Mitchell.
    «Du fühlst dich also unternehmungslustig, hm? Wohin fährst du?»
    «Nach Benares.»
    «Dort solltest du in der Yogi Lodge wohnen. Der beste Platz.»
    «Okay. Mach ich.»
    Rüdiger streckte mit einem Sinn für Förmlichkeit die Hand aus.
    «Als ich dich das erste Mal sah», sagte er, «dachte ich: ‹Über den da weiß ich nichts. Aber er ist offen.›»
    Er sah Mitchell in die Augen, wie um ihn zu ergründen und ihm Glück zu wünschen. Mitchell drehte sich um und ging.
    Als er den Hof überquerte, stieß er beinahe mit Mike zusammen.
    «Du reist ab?», sagte Mike, als er den Matchsack bemerkte.
    «Ich habe beschlossen, ein bisschen herumzufahren», sagte Mitchell. «Aber, hör mal, bevor es losgeht, erinnerst du dich noch an diesen Lassi-Laden, von dem du mir erzählt hast? Wo es die Bhang-Lassis gibt? Kannst du mir zeigen, wo der ist?»
    Das tat Mike gern. Sie gingen durchs Eingangstor und über die Sudder Street, am Chai-Stand vorbei und in das enge Straßengewirr dahinter. Irgendwann kam ihnen ein Bettler entgegen, der die Hand ausstreckte und «Bakschisch! Bakschisch!» rief.
    Mike ging weiter, aber Mitchell blieb stehen. Er kramte in seiner

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