Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
herunterbrachte. Sie fuhren mit der Bahn nach Paris, wo sie in einem bescheidenen Hotel am linken Seineufer abstiegen.
    Am Tag vor ihrem Rückflug in die Vereinigten Staaten ließ Madeleine Leonard allein im Zimmer, während sie hinausging, um ihm Zigaretten zu kaufen. Das Sommerwetter war herrlich, die Farben der Blumen im Park leuchteten so stark, dass ihr davon die Augen wehtaten. Ein Stück voraus sah sie etwas Erstaunliches, eine von einer Nonne angeführte Schar von Schülerinnen. Sie überquerten die Straße und rückten in den Hof ihrer Schule ein. Zum ersten Mal seit Wochen lächelnd, sah Madeleine ihnen dabei zu. Ludwig Bemelmans hatte Fortsetzungen zu
Madeline
geschrieben. In einer schloss Madeline sich einem Zigeunerzirkus an. In einer anderen wurde sie von einem Hund vor dem Ertrinken gerettet. Doch trotz all ihrer Abenteuer war Madeline nie älter geworden als acht. Das war zu schade. Madeleine hätte einige hilfreiche Beispiele, weitere Folgen der Serie, gut brauchen können. Madeline legt das
baccalauréat
ab. Madeline studiert an der Sorbonne. (Und zu Autoren wie Camus/​sagt sie in aller Ruhe nur ‹Hühü!›.) Madeline macht freie Liebe, tritt in eine Kommune ein oder reist nach Afghanistan. Madeline nimmt an den Protesten im Mai 68 teil, wirft mit Steinen nach Polizisten oder schreit: «Unter dem Pflaster der Strand.»
    Hatte Madeline Pepito, den Sohn des spanischen Botschafters, geheiratet? War ihr Haar noch rot? War sie noch immer die Kleinste und die Mutigste?
    Nicht eben in «zwei schnurgeraden Reihn», aber einigermaßen ordentlich verschwanden die Mädchen durch dieTüren der Klosterschule. Madeleine ging zurück zum Hotel, wo Leonard, noch mit Verbänden, das Opfer eines anderen Krieges, auf sie wartete.
     
    Das Gute freute sie sehr,
    das Böse fanden sie schaurig,
    und manchmal waren sie sehr traurig.
     
    Am Ende des Gleises tauchte aus einem Dunst von Ruß und flirrender Hitze der Northeast-Corridor-Zug auf. Madeleine stand auf dem Bahnsteig hinter der gelben Linie und spähte durch ihre schiefe Brille. Die war, nachdem sie zwei Wochen lang verloren gewesen zu sein schien, am Vortag ganz unten in ihrem Wäschekorb wiederaufgetaucht. Sie war längst zu schwach, die Gläser nicht weniger zerkratzt und das Gestell nicht moderner als drei Jahre zuvor. Sie würde sich überwinden und sich eine neue verschreiben lassen müssen, bevor das Masterstudium anfing.
    Sobald sie festgestellt hatte, dass der Zug nahte, nahm sie die Brille wieder ab und schob sie in ihre Handtasche. Sie drehte sich auf der Suche nach Leonard um, der sich über die Schwüle beklagt hatte und in den schwach klimatisierten Warteraum gegangen war.
    Es war kurz vor fünf Uhr nachmittags. Etwa zwei Dutzend andere Menschen warteten auf den Zug.
    Madeleine steckte den Kopf in den Warteraum. Leonard saß auf einer Bank und starrte dumpf zu Boden. Er trug immer noch das schwarze T-Shirt und die schwarzen Shorts, aber er hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie rief ihn.
    Leonard hob den Blick und stand langsam auf. Er hatte ewig gebraucht, um aus dem Haus ins Auto zu kommen, undMadeleine hatte sich Sorgen gemacht, sie könnten ihren Zug verpassen.
    Die Türen des Zuges waren längst offen, als Leonard auf dem Bahnsteig erschien und Madeleine in den nächsten Waggon folgte. Sie wählten eine Bank für zwei Personen, damit sie nicht mit jemandem zusammensitzen mussten. Madeleine holte ein zerlesenes Exemplar von
Daniel Deronda
aus ihrer Tasche und lehnte sich zurück.
    «Hast du was zu lesen dabei?», sagte sie.
    Leonard schüttelte den Kopf. «Ich werde einfach auf die schöne Landschaft von New Jersey hinausstarren.»
    «New Jersey hat wirklich ein paar hübsche Ecken», sagte Madeleine.
    «So die Legende», sagte Leonard und fing an zu starren.
    Die neunundfünfzigminütige Zugfahrt lieferte dafür keine besondere Bestätigung. Wenn sie nicht an Industriegebieten vorbeifuhren, rollten sie in eine weitere sterbende Stadt wie Elizabeth oder Newark. Den Gleisen zugekehrt war der Hof eines Gefängnisses mit niedriger Sicherheitsstufe, dessen Insassen weiße Uniformen trugen wie eine Versammlung von Bäckern. Bei Secaucus begannen die blassgrünen Sumpflandschaften, erstaunlich hübsch, wenn man nicht zu den Schornsteinen und Ladedocks ringsum aufsah.
    Sie kamen mitten in der Rushhour an der Penn Station an. Madeleine führte Leonard von den überfüllten Rolltreppen zu einem weniger benutzten Aufgang, über

Weitere Kostenlose Bücher