Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
diesem Augenblick ihre Farben über seine Gedanken strichen, so zärtlich wie eine Umarmung. Nun war ihr Glühen nicht verhüllt.
Sag mir, wenn du den Kontakt hergestellt hast, dann werde ich dir die Botschaft geben, die du übermitteln sollst. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren .
»Für einen jungen Mann hast du sehr schönes Haar«, sagte Aysha, als sie es kämmte.
»Danke.« Gair schob das Handtuch um seine Schultern zurecht. »Und du hast sehr kurzes Haar für eine Frau.«
»Ich habe es gestutzt, als ich im Souk gelebt habe. Dort ist alles einfacher, wenn du wie ein Junge aussiehst. Und irgendwann hat es mir gefallen.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass dich jemand für einen Jungen gehalten hat.« Er griff hinter sich und fuhr mit der Hand über ihren Hintern.
Sie klopfte ihm mit dem Kamm auf den Kopf. »Benimm dich. Als ich jung war, war ich so flach wie ein frisch gebügeltes Hemd. Die Rundungen kamen erst später.« Das Messer zischte über den Kamm. »Wie dem auch sei, ich habe nicht genug Geduld für langes Haar. All dieses Getue vor dem Spiegel – da reiße ich mir lieber die Fingernägel aus.«
Abgeschnittene Haare fielen um Gairs Hocker herum auf den Boden des Badezimmers, als sie ihn kämmte, dann noch ein wenig schnitt und wieder kämmte. Er beobachtete sie im Spiegel an der Wand. Ihre Hände bewegten sich geschickt und schnell, und die Klinge blitzte zwischen ihren Fingern auf.
Nie zuvor hatte ihm eine Frau die Haare geschnitten, nicht einmal in seiner Kinderzeit. Obwohl es dieselbe Frau war, die neben ihm gelegen hatte, als er heute und an den beiden vergangenen Morgen die Augen geöffnet hatte – bei allen Heiligen, er wartete noch immer darauf, aus diesem Traum aufzuwachen –, war es doch eine bemerkenswert intime Erfahrung. Ihre Finger bewegten sich durch sein Haar, über seine Kopfhaut und verursachten ihm ein Kribbeln im Rückgrat. Dieses Gefühl nahm ihn so sehr in Anspruch, dass einige Sekunden vergingen, bevor er bemerkte, dass sie den Kopf gehoben hatte und ihn nun dabei beobachtete, wie er sie beobachtete.
Ihre Lippen bewegten sich kaum, aber die Fältchen in den Augenwinkeln verriet ihre Belustigung.
Er räusperte sich. »Warum war es besser, im Souk ein Junge zu sein?«
»Es war sicherer«, sagte sie. »Junge Mädchen ohne Eltern sind sehr begehrt, sogar wenn sie verkrüppelt sind.«
»Ich wage kaum zu fragen, warum.«
»Gütige Göttin, du bist so unschuldig! Natürlich für die Freudenhäuser.«
»Ah, natürlich.« Gairs Ohren brannten. Trotz seiner Klostererziehung hätte er es wissen müssen. Damals war er zu jung gewesen, um daran großes Interesse zu haben, aber er hatte solche Frauen in Leahaven gesehen – elegante, selbstsichere Frauen, die ihre blasse Haut mit Sonnenschirmen schützten, die Aufmerksamkeit jedes männlichen Wesens über zwölf erregten und böse Blicke von allen Frauen ernteten, wenn sie die Straße hinabgingen.
»Ich war mit einer oder zwei von ihnen befreundet«, fuhr Aysha fort, während sie einen anderen Teil seines Haarschopfs kämmte. »Sie haben mir gesagt, dass das Leben in den besseren Häusern gar nicht so schlecht ist. Sie hatten feine Kleider, ihre Zimmer waren mit Seide ausstaffiert, und vor der Tür standen Beschützer für den Fall, dass einer ihrer Kunden allzu grob werden sollte. Sie erhielten sogar einen Teil ihrer Einnahmen. Aber nicht alle Häuser sind so zivilisiert.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Glaube mir, das kannst du nicht. Einiges von dem, wofür gewisse Menschen zahlen, um es zu sehen oder zu tun oder am eigenen Leib zu erfahren, ist …« Sie erschauerte. »Wie dem auch sei, ich entschied mich, meine eigene Herrin zu sein, und verdiente meinen Lebensunterhalt in einem anderen Gewerbe. Sobald ich gelernt hatte, meine Stimme um eine Oktave zu senken und ohne Hüftschwung zu gehen, war es ziemlich einfach, so zu tun, als wäre ich ein Junge.«
»Gab es in den Freudenhäusern denn keine Jungen?«, fragte er vorsichtig. »Manche Männer mögen sie doch lieber als Frauen.«
»Ja, es gab sie, aber Lehrjungen mit Vertrag wurden in Ruhe gelassen. Es war nicht so, dass ich nicht ein oder zwei hübsche Angebote erhalten hätte«, fügte sie hinzu und warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Allerdings hatte Jalal die Angewohnheit, im hinteren Teil des Ladens gerade sein größtes Messer zu wetzen, wenn bestimmte Kerle hereinkamen, und aus irgendeinem Grund blieben sie nie lange.«
»Vermisst du
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