Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
Natur.«
Gair hob das Laken und sein Krankennachthemd an. Tagealte Blutergüsse sprenkelten seine Seite und seine Beine und waren von runzligem, flammend rotem Narbengewebe durchzogen. Bei allen Heiligen und Engeln, was ist mit mir passiert? Wie viel Zeit habe ich verloren? Die Heilkünste konnten in wenigen Stunden erreichen, wofür der Körper Tage oder Wochen brauchte. Gair senkte das Laken wieder.
»Wie lange bin ich schon hier?«
Tanith drückte seine Schulter. »Ich hole jetzt Saaron.«
Als sie gegangen war, starrte er die Decke an und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, nachdem er die Treppe zum Turm hochgestiegen war. Nichts kam ihm in den Sinn außer einer vagen Unruhe, die ihn bedrückte und so schwer wie eine Gewitterwolke über ihm hing. In ihren Tiefen polterten Erinnerungen und flackerten kurz auf, doch sie waren so schnell wieder vergangen, dass er sie nicht packen konnte. War das Taniths Schild?
Die Tür wurde wieder geöffnet, und ein hagerer Mann in Heilergrün und mit einem Haarschopf wie eine Vogelscheuche trat ein und grinste. »Du bist also endlich zu uns zurückgekehrt«, sagte er und ließ sich auf den Hocker neben dem Bett fallen.
»Saaron?«
»Genau der. Wie fühlst du dich?«
»In Anbetracht der Tatsache, dass ich wie ein Metzgerblock aussehe? Vor allem müde.«
»Das kommt vom Heilen. Nach ein paar Tagen Ruhe und einigen guten Mahlzeiten wirst du nicht einmal mehr wissen, dass du verletzt warst. Dann werden sogar die Narben verblasst sein, es sei denn, du möchtest eine oder zwei behalten, um die Mädchen zu beeindrucken. Allerdings habe ich gehört, dass einige von ihnen nicht mehr beeindruckt werden müssen.« Saaron zwinkerte ihm heftig zu.
»Was meint Ihr damit?«
»Deine Süße. Sie hat die Krankenstation zwei Tage lang belagert, bis Alderan sie endlich fortgescheucht hat.«
Süße? »Zwei Tage? Wie lange bin ich schon hier?« Panik regte sich in Gairs Brust. Die Göttin gebe, dass es noch nicht zu spät ist .
»Ein klein wenig länger, aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du jetzt auf dem Weg der Besserung bist und …«
»Es ist wichtig. Wie lange, Saaron? Was ist oben auf dem Turm mit mir passiert?«
Saaron fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Soweit wir wissen, hast du dich verwandelt und bist über den Hafen auf die Fünf Schwestern zugeflogen. K’shaa, der Kapitän der Morgenstern , erinnert sich daran, dich gesehen zu haben. Irgendwo bei den Fünf Schwestern bist du auf Savin gestoßen.«
Dieser Name hallte in Gairs Kopf wider. Blitze zuckten im Gewittersturm hinter seinen Augen.
Saaron hielt inne. »Du kennst den Namen.«
»Ja. Was ist dann passiert?«
»Er hätte dich beinahe umgebracht, als er nach etwas gesucht hat, wovon er glaubte, du wüsstest es. Das konntest du uns noch sagen. Aber wie du es bis hierher geschafft hast, weiß keiner. Alderan hat dich mehr tot als lebendig vom Turm heruntergebracht, und seitdem bist du hier.«
»Seit wann?«
»Seit ein paar Tagen bloß. Gair, das spielt keine Rolle.«
»Ihr nehmt mich nicht für voll, Saaron. Seit wann ?« Ich muss wissen, wie viel Zeit ich verloren habe .
Saaron kniff missbilligend die Lippen zusammen, aber nach einem Augenblick entspannte er sich wieder. »Seit sechs Tagen.«
Gair fluchte. Sechs Tage waren zu viel. Er schob das Laken samt Decke zur Seite und schwang die Beine über den Bettrand.
»Du bist noch nicht wieder kräftig genug, um aufzustehen.« Saaron packte ihn am Arm, aber Gair schob den alten Mann beiseite.
»Ich muss ihn finden«, sagte er. »Verdammt, Saaron, lasst mich aufstehen.«
»Setz dich und hör mir zu«, fuhr ihn der Heiler an. »Was willst du finden? Wovon redest du?«
»Savin kommt her«, sagte Gair und kämpfte sich auf die Beine. »Er sucht nach dem Schlüssel.«
»Was? Nach welchem Schlüssel?«
»Ich erinnere mich. Er kommt her.« Gairs Knie gaben nach. Er hielt sich am Nachttisch fest, und der irdene Humpen fiel zu Boden und zersplitterte. Verdammt, zu lange. Viel zu lange. Sechs Tage! Ich muss ihn finden .
Saaron rief etwas in Richtung Tür, und grüne Mäntel schwärmten herein und umzingelten Gair. Zwei stämmige Adepten drückten ihn sanft zurück aufs Bett und hielten ihn fest. Gütige Göttin, wie sein Hals brannte! Er konnte sich nicht mehr bewegen, konnte sie nicht abschütteln. Begriffen sie denn nicht, was hier geschah?
»Offenbar ist der Schild schwach geworden«, sagte Saaron, als Tanith sich über Gair beugte und
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