Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
Der lange, gerade Weg ging nun etwa zwanzig Schritte vor ihm in eine Rechtskurve über. Er drehte sich um und rannte los.
Es war gleichgültig, welche Richtung er einschlug. Rechts oder links – es spielte keine Rolle. Er rannte einfach. Manchmal stolperte er und prallte gegen die Hecke. Grüne Dornen zerrten an seinen Kleidern und rissen ihm die Haut auf. Blut quoll hervor. Der wolkenlose, ewige Mittag war erbarmungslos heiß und trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Er rannte, bis ihm die Lunge brannte. Er rannte weiter. Er musste einen Weg aus dem Labyrinth heraus finden, bevor die Waldnymphe erdrosselt wurde.
Die schattenlosen Wege erstreckten sich endlos, kreuzten sich, mündeten in sich selbst. Er nahm eine Abzweigung nach der anderen, dann wiederum ließ er etliche aus. Die Hitze setzte ihm zunehmend zu, bis ihm der Kopf hämmerte und ihm alles vor den Augen verschwamm. Es musste einen Weg hinaus geben. Das Labyrinth konnte sich nicht bis in alle Ewigkeit so erstrecken.
Er stolperte über die eigenen Füße und fiel in den Staub. Der Aufprall presste ihm die Luft aus der Lunge. Er atmete den Staub ein und musste husten. Bei allen Heiligen, er musste von hier verschwinden. Keuchend rollte er sich auf den Rücken und versuchte seine Kräfte zu sammeln, damit er wenigstens wieder aufstehen konnte.
Zuerst kam er auf die Knie. Er stellte den einen Fuß auf und drückte sich hoch. Seine Beine waren so zitterig wie die eines neugeborenen Fohlens, und beinahe wäre er in die nächste Hecke gefallen. Er richtete sich auf und schaute sich um. Er stand vor einem Durchgang zu einem freien Platz, der einen Durchmesser von etwa fünf Fuß hatte und in dessen Mitte sich ein Hügel aus Efeu befand. Das, was sich unter ihm befand, war vollkommen verdeckt; nur ganz oben ragte etwas Weißes heraus. Gair taumelte darauf zu. Das Weiße war ein kleiner Arm, der Arm einer Frau, schlank und geschmeidig, und er reckte sich dem Himmel entgegen. Ein einzelner Efeustrang wand sich vom Ellbogen hoch und drückte seine dunklen Blätter gegen das marmorne Fleisch. Es war zu spät.
Gair fiel auf die Knie. Er war so weit gelaufen, und doch war er zu spät gekommen. Ein Schluchzen ließ ihn erbeben, ein zweites, für die Nymphe unter dem Efeu, für die hämmernden Schmerzen in seinem Kopf, für seine Unfähigkeit, den Weg hinaus zu finden.
Er hatte versagt.
Gair starrte den Arm der Nymphe an. Sie hatte die Finger flehentlich ausgestreckt. Der Efeu war jung; die Ranken waren nicht sonderlich dick. Vielleicht konnte sie noch gerettet werden, wenn er an sie herankam. Er packte eine Handvoll Efeu und zerrte daran. Einige Ranken lösten sich und hinterließen federartige Muster auf der blassen Gestalt der Nymphe, doch dann rutschten seine Hände ab. Dunkle Blätter regneten auf den Boden herab, aber die Ranken rissen nicht. Gair verdoppelte seine Anstrengungen und zog und zerrte an dem Efeu, bis seine Finger schwarz vom Saft und blutig waren, aber er bewirkte gar nichts.
»Nein«, flüsterte er und ballte die Fäuste. Er durfte es nicht zulassen, dass sie erstickte. »Nein!«
Fluchend griff er in sich hinein und suchte nach der Musik des Feuers.
Macht brach hervor. Sie ergoss sich in seine Seele, kochte und stieg auf, bis sie jede Spalte seines Selbst erfüllte. Sie löschte seine Schuldgefühle aus, rann an seinen Adern entlang und versengte ihm die Haut. Er entfesselte sie, und die Statue stand in Flammen.
Die Efeublätter krümmten sich und fielen zur Erde. Die Ranken platzten, Saft brodelte in den Rissen, und wogender, stinkender Rauch erfüllte die Luft. Die Dornenhecken fingen mit einem tosenden Brüllen Feuer, und er fachte die Flammen noch immer an.
Beim nächsten Herzschlag war das Feuer verschwunden. Ein Teppich aus Asche umgab das Podest der Statue, und Asche stieg in die Luft, als Gairs Stiefel darüber schritten. Der Stein war rußgeschwärzt, aber außer ein paar verkohlten Zweigen am Boden war vom Efeu nichts geblieben. Die Nymphe hielt den Kopf gesenkt, und ihre Arme hingen an den Seiten herunter. Wirres Haar mit zerfetzten Rosen darin bedeckte ihr Gesicht. Er streckte die Hand aus, berührte sie, und sie zerfiel zu Asche.
» NEIN !«
Gair sackte auf die Knie. Der Marmorfuß zersplitterte unter seinen Händen, und Gair fiel auf die Seite. Er war zu spät gekommen, hatte sie nicht mehr retten können – und sich selbst auch nicht.
Der Rauch trieb umher. Ein dünner Sonnenstrahl fiel hindurch, dann ein weiterer und
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