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Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1

Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1

Titel: Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elspeth Cooper
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Heilung. Und dann wird es dir wieder gut gehen.«
    »Ich bin kein Kind, Tanith«, wandte er ein und schloss den Mund, als er erkannte, dass er nun genau wie ein Kind klang.
    »Ich weiß. Aber du musst Geduld haben.« Sie ergriff die Kerze, wollte sie mitnehmen, stellte sie dann aber so unvermittelt wieder ab, dass ihr das Wachs auf die Finger tropfte. Sie schien es nicht zu bemerken. Ihre Augen waren nun so hart wie Topase. »Du begreifst nicht, was man dir angetan hat, oder? Savin hat deinen Verstand zerrissen, und das war viel schlimmer als das, was er deinem Körper angetan hat. Als du zu uns zurückgekommen bist, hast du kaum mehr gelebt. Keiner von uns weiß, wie es dir gelungen ist, dich so lange am Sang festzuhalten, dass du von den Fünf Schwestern bis hierher zurückfliegen konntest. Du warst fast verblutet, warst fast tot und kaum mehr bei Verstand. Ich habe viele Stunden in deinem Geist verbracht und dich wieder zusammengeflickt, und ich habe bloß …«
    Sie hielt inne, hatte die Hände in den Falten ihres Mantels zu Fäusten geballt und die Augen fest geschlossen. Ihre Lippen zitterten.
    Gair starrte sie an, verblüfft über ihren Gefühlsausbruch.
    »Verzeih mir«, sagte sie gepresst. »Ich hatte kein Recht, mich so gehen zu lassen. Ich werde dich morgen wieder aufsuchen.«
    Sie ließ die blakende Kerze zurück und ging.

30
    Tanith schloss die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich und lehnte sich dagegen. Ihr Vater hatte recht; sie hatte zu lange unter Menschen gelebt. Sie hatte jeden Abstand verloren und sich der Gnade der stürmischen Gefühle ausgeliefert, die in ihr tobten.
    Sie kniff die Augen fest zusammen. O Geister, bleibt bei mir. Was mache ich da bloß?
    Im Verlauf ihrer medizinischen Ausbildung hatte sie die Menschen studiert, die ohne ein Gefühl für Zurückhaltung geboren worden waren und wegen der Leidenschaften, die sie nicht zu zügeln vermochten, schreckliche Untaten begingen. Wut flammte so hell wie ein Blitz in ihr auf. Wie konnten die Menschen das ertragen? Spürten sie den anschwellenden Sturm der Gefühle in sich wogen; drückte ihnen die harte Hand der Verzweiflung die Luft aus der Lunge?
    Auch in der edelsten menschlichen Seele brausten dunkle Ströme und befanden sich Tiefen, in denen nur Alpträume leben konnten. Sie hatte sie in zerschmetterten Körpern und gebrochenen Geistern beobachtet. Hatte sie damit gleichzeitig die ersten Regungen dieser Gefühle in sich selbst gesehen? Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, und ihr Kopf sank gegen die Tür. Was wird der Weiße Hof jetzt mit mir machen?
    Die erste Tränenflut hatte sie entsetzt. Der darauf folgende Stich der Eifersucht, heftig und schmerzhaft, hatte ihr den Atem geraubt. Nach ihrer Erziehung zur Zurückhaltung und Mäßigung sah sie sich plötzlich in ein wogendes, unbeherrschbares Meer geworfen, das sie unmöglich durchschiffen konnte. Es gab keine Karten, anhand derer sie ihren Kurs hätte festlegen können, keine vertrauten Sterne, die sie leiteten, und sie wollte einfach nur in diese schlammigen Tiefen hinabtauchen und fühlen . Sie wollte toben und in Lüsten schwelgen, nicht weil es sie zu einer besseren Ärztin machen würde, sondern – bei allen Geistern! – weil es sie menschlich machte.
    Tanith rieb sich die Schläfen. Sie war so müde. Diese Heilarbeit war schwer gewesen – die schwerste, die sie je unternommen hatte. Es war so viel Zartheit notwendig gewesen, und doch hatte sie fieberhaft schnell arbeiten müssen, damit das Chaos im Zaum gehalten wurde, bevor sich Gairs Geist um sie herum völlig auflöste. Ihre augenblickliche Schwäche war nicht verwunderlich, denn sie hatte so viele Stunden im Schutt seiner Erinnerungen verbracht und so vieles erfahren, was er ihr freiwillig niemals mitgeteilt hätte, auch nicht angesichts ihrer Schweigepflicht als Medizinerin.
    Ich muss nach Hause gehen. Sobald er sich erholt hat, darf ich nicht länger hierbleiben. Ich dachte, ich könnte widerstehen, aber ich kann es nicht. Es tut zu sehr weh .
    Tanith zog ihre Schuhe aus und sank mit den Füßen in den moosigen Boden ein. Es war nur eine Illusion, wie die Bäume, die die Wände abschirmten, und wie der Klang von rauschendem Wasser und Vogelgesang, aber es fühlte sich so kühl und federnd unter den Sohlen an wie der Boden in den Birkenwäldern oberhalb des Sees. Das genügte, um ihr ein wenig Ruhe zu verschaffen, damit sie meditieren konnte. Eigentlich war sie zu müde dafür, aber sie musste ihr Gleichgewicht

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