Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
wiederfinden. Sie fühlte sich, als würde ihre Seele in stürmischer See hin und her geworfen. Erst wenn sie einen sicheren Hafen fand, würde sie schlafen können.
Aus der Truhe mit den silbernen Beschlägen am Fuß ihres Bettes nahm sie einen flachen Kasten sowie eine kleine Kohlenpfanne und eine Wärmeplatte heraus, die sie auf den Deckel der Truhe stellte. Eine winzige Spur des Sangs entzündete die Kohlen. Während Tanith darauf wartete, dass die Platte heiß wurde, löste sie ihr Haar und kämmte es aus. Als die Kohlen mit weißer Asche überzogen waren und die Luft über dem Wärmer wogte, setzte sie sich auf einen kleinen Birkenstamm, schlug die Beine übereinander und öffnete den Kasten.
Darin befanden sich in einer Vielzahl von Fächern weitere Kästchen sowie Phiolen und Seidenbeutel. Die Yarra-Wurzel, die sie suchte, war in Ziegenleder eingewickelt. Tanith nahm sie sowie eine Glasphiole mit Öl heraus und stellte den flachen Kasten beiseite. Zunächst goss sie einige Tropfen Öl auf die Wärmeplatte. Mit einem Messer schnitt sie ein Stück von der knotigen schwarzen Wurzel ab und warf sie ins Öl. Rauch stieg auf, und es verbreitete sich ein dunkler und starker Duft wie von Erde nach einem Regenguss. Tanith atmete ihn tief ein und stieß die Luft so langsam wie möglich wieder aus.
Schon besser. Beinahe hatte sie den Eindruck, wieder in Astolar zu sein. Sie dehnte die Illusionen, mit denen sie sich in ihrem Zimmer umgeben hatte, aus, bis der kleine viereckige Raum ein ganzes Tal umfasste. Eine sanfte Brise fuhr durch die raschelnden Blätter der Birken über ihr. In der Ferne hörte sie das Murmeln des Wasserfalls von Belaleithne auf der anderen Seite des Sees. Zum ersten Mal seit vielen Monaten verspürte sie den Schmerz des Heimwehs.
Ich höre deine Träume, Tochter .
Tanith öffnete die Augen. Der Rauch der Yarra-Wurzel fügte sich zum Umriss des Gesichts, das sie so gut kannte. Es bildete sich immer wieder neu, während der Rauch beständig aufstieg, und nur die schräg stehenden Augen sowie die schmalen Brauen blieben gleich.
»Papa«, begrüßte sie ihn herzlich.
Geht es dir gut?
»Ich bin bloß müde. Es war ein schwieriger Tag.«
K’shaa hat mir gesagt, dass er bisher nicht losgesegelt ist .
»Das stimmt. Ich werde hier noch eine Weile benötigt.«
Du wirst auch hier benötigt, Tochter .
»Nur noch ein paar Tage, Papa. Ich habe einen neuen Patienten.«
Er seufzte. Du hättest schon vor einem Zwölfmond zu uns zurückkehren sollen, Tanith. Ich habe nachgegeben, als du den Wunsch geäußert hast, Heilerin zu werden, weil du die Gabe dazu besitzt, und solche Gaben sollten nicht vergeudet werden, aber als Tochter des Weißen Hofes hast du auch hier in Astolar Verpflichtungen. Deine Abwesenheit ist … höchst ärgerlich .
»Ich weiß, Papa, aber ich habe den Heilereid geschworen. Meine erste Pflicht ist es, mich um die Patienten in meiner Obhut zu kümmern, und wenn ich das nicht täte, würde der, den ich jetzt habe, sterben.«
Du hast mir gesagt, dass einige der besten Heiler der Menschenwelt auf die Inseln kommen. Sicherlich kann einer von ihnen deine Aufgabe übernehmen?
»Ich darf ihn nicht allein lassen. Er leidet unter einer Geistplünderung.«
Die Umrisse im Rauch zuckten unter einem Zischen zusammen. Bist du sicher?
»Ich bin mir nie sicherer gewesen.« Tanith rieb sich die Augen. »Ich habe mein Bestes getan. Ich habe ihn gegen die schlimmsten Schäden abgeschirmt, aber es ist noch viel zu tun, wenn seine Gaben erhalten bleiben sollen.«
Ein Geistplünderer in der Welt! Ihr Vater schüttelte den Kopf, und einige Rauchfäden stiegen spiralförmig auf.
»Dieser Geistplünderer ist ein Mensch.«
Abscheulich! Und du setzt dich alldem aus?
»Es gibt sonst niemanden, der das beheben kann, was er angerichtet hat.«
Das Bild ihres Vaters seufzte und murmelte Worte, die sie nicht verstand, auch wenn sie sich vorstellen konnte, was er gerade sagte. Sie hatte diese Worte zweifellos schon früher gehört.
Mir ist bei dem Gedanken an das Risiko, das du auf dich nimmst, unbehaglich zumute, Tochter. Du bist von großer Bedeutung für den Hof und den Fortbestand unseres Volkes . Eine ganz kurze Pause folgte, so flüchtig wie ein Atemzug. Und auch für mich .
Sie streckte den Arm aus, legte ihm die Handfläche auf die virtuelle Wange und lächelte.
»Mach dir keine Sorgen, Papa. Ich bin so vorsichtig wie möglich bei dem, was getan werden muss.«
Muss es wirklich getan werden?
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