Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
Du kannst doch nicht vergessen haben, was auf dem Spiel steht .
Tanith hob ruckartig den Kopf. Sie war schockiert von dem, was ihr Vater damit angedeutet hatte. »Willst du damit fragen, ob er das Risiko wert ist? Natürlich ist er das – jedes Leben ist es, ohne Rücksicht auf Rang oder Rasse. Er ist ein guter Mann, Papa, und genauso wertvoll wie du und ich oder jeder andere bei Hofe.« Sie hielt inne, bevor sie zu viel sagte, aber ihre Illusion zitterte bereits an den Rändern, da ihre Konzentration nachließ. Regenwolken verdunkelten den Horizont ihres Traumes von Astolar und bedeckten den ewig blauen Himmel.
Aber ein Mensch …
»Ja, ein Mensch. Aus ihnen kommen jetzt viele der größten Talente, seit sich unser Volk immer mehr aus dieser Welt zurückzieht. Wenn wir überhaupt gerettet werden können, dann durch die Menschen, die dazu die Waffen ergreifen.«
Das Bildnis ihres Vaters wirkte schmerzerfüllt.
»Ich weiß, dass dir dieser Gedanke nicht gefällt, Papa, aber unser Schicksal liegt nun in den Händen anderer. Jetzt, da der Schleier bedroht ist, wird es nur einen kurzen Aufschub bedeuten, wenn wir uns aus dem Kampf zurückziehen. Der Krieg wird uns auch im Verborgenen Königreich finden. Wir werden nicht mehr sicher sein.«
Es gibt inzwischen vier Häuser, die für das Exil stimmen. Bei der letzten Versammlung hat sich das Haus Amerlaine mit Denellin und den anderen verbündet .
Ihr sank das Herz, auch wenn diese Nachricht nicht völlig unerwartet kam. »Berec ist alt«, seufzte sie. »Er will die ihm verbleibenden Jahre in Frieden leben und nicht mehr in die Schlacht ziehen. Ich kann seine Gründe verstehen.«
Sobald es noch eine weitere Stimme für das Exil gibt, herrscht unter den Zehn ein Patt. Dann muss die Königin entscheiden, und ich weiß, dass sie den Frieden bevorzugt. Wir sind kein kriegerisches Volk, Tochter .
»Das ist mir klar. Aber es gibt einige Feinde, gegen die sogar wir kämpfen müssen. Der Preis, wenn wir untätig bleiben, ist einfach zu hoch.«
Ach, Tanith , lachte ihr Vater. Wenn du deiner Mutter auf den Thron folgst, wirst du den Weißen Hof bis in die Grundmauern erschüttern. Ich hoffe, ich werde lange genug leben, um das zu sehen. Wann kommst du nach Hause, meine Tochter? Astolar ist durch deine Abwesenheit geschwächt .
»Sobald ich kann, Papa, das verspreche ich dir. Aber ich werde hier noch gebraucht.«
Wie lange?
»Vermutlich ein paar Tage. Die körperlichen Verletzungen waren schon schlimm genug, aber anscheinend sind die Leahner nicht so leicht zu töten, und seine Wunden verheilen gut. Doch ich fürchte um seine Gabe.«
Ist dieser Leahner stark?
»Der Stärkste, den ich je gesehen habe. Ich bin bisher bloß einmal kurz in ihn hinabgetaucht und konnte keine Grenzen erkennen.«
Weiß er das?
»Nein, aber vermutlich ahnt er, dass an seiner Gabe mehr ist, als er bisher erkannt hat. Doch selbst wenn er ihre Ausmaße kennen würde, wäre ihm damit nicht geholfen. Es ist nicht das erste Mal, dass der Geistplünderer auf ihn gestoßen ist.«
Ihre Stimme bebte, und nicht einmal der Duft der Yarra-Wurzel konnte die Spannung aus ihrer Stimme vertreiben. »Er wäre fast in Stücke gerissen worden. Ich habe ihn in den Armen gehalten, während er geschrien hat, bis er keine Luft mehr bekam. Ich habe seine geistige Gesundheit in meinen Händen gehalten, und seine Gabe hat geglitzert wie der See unter dem Dreimond. Sie darf nicht verloren gehen. Seine Bedeutung für den Orden ist überragend, und das macht ihn am Ende für uns alle wichtig. Ich muss ihn heilen, Papa. Ich muss.«
Ihr Vater schwieg, während sie sich wieder beruhigte. Dann sagte er sanft: Hier geht es um mehr als nur um einen Patienten, nicht wahr? Du hast Zuneigung zu ihm gefasst .
»Selbst wenn das der Fall wäre, hat eine andere mehr Anspruch auf ihn als ich«, sagte sie.
Aber du sorgst dich um ihn .
»Ich sorge mich, was mit der Welt geschieht, falls er sterben sollte.« Leidenschaft heizte ihre Worte an. »Er könnte der Schlüssel zur Erhaltung des Schleiers sein. Wir leben an der Grenze zweier Reiche, Papa, und solange der Schleier hält, haben wir unseren Platz. Aber wenn er zerrissen wird – und ich befürchte, dass der Geistplünderer genau das will –, dann werden wir gar nichts mehr haben.«
Das weiß ich , seufzte er, und es bekümmert mich. Also gut, Tochter. Du musst tun, was du tun musst, genau wie ich. Wir beide müssen jetzt unsere Schlachten schlagen: du die deine mit dem
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