Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
sah ihn starr an, sobald Gair wieder stand.
»Ich brauche deine Hilfe, Gair.« Seine Stimme schnitt mit großer Dringlichkeit durch das Heulen des Windes, das Tosen des Wassers und das Knarren der Wanten.
»Was kann ich tun?«
»Hilf mir, das Schiff zu wenden. Der Sturm treibt es zu weit nach Süden ab, und vor den Maling-Inseln gibt es Riffe, die es zu Treibholz machen werden.«
»Wie? Ich bin doch kein Seemann …«
»Der Sang.« Die Augen des alten Mannes leuchteten im schwindenden Licht. »Mit diesem Sturm stimmt etwas nicht. Er ist unnatürlich, und er wird das Ende dieses Schiffes bedeuten, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Es ist zu viel für mich allein, aber mit deiner Hilfe können wir ihn bekämpfen. Ich weiß, dass du dazu in der Lage bist.«
Verblüfft schob sich Gair die nassen Haare aus dem Gesicht. Er musste sich verhört haben. »Ich habe keine Ahnung, wie ich den Sang dazu einsetzen kann«, rief er, »und außerdem höre ich ihn nicht. Er ist schon seit Tagen verstummt.«
Der alte Mann packte seine Schulter fester. »Er ist noch da, Gair. Er verlässt dich nie, nicht einmal für eine Minute. Er ist ein Teil von dir, den dir niemand nehmen kann.«
»Was ist, wenn er aus mir herausbricht? Ich kann ihn nicht kontrollieren, Alderan!«
»Mach dir darum keine Sorgen. Ich werde das Weben besorgen; ich brauche bloß deine Kraft.«
O Göttin, das konnte er nicht tun. Schon zu oft hatten sich einfache Dinge unter seinen Händen verselbstständigt. Statt ein wärmendes Feuer in einer kalten Nacht zu bergen, war der Kamin zu einem brüllenden Brennofen geworden, und trockenes Holz war in nadelspitze Splitter explodiert. Heraufbeschworene Lichter hatten geflackert, waren ausgegangen und konnten nie wieder entzündet werden. Das alles war zu unvorhersehbar, zu wild. Er wusste nicht, was er tun sollte – und nun hingen sein Leben und das aller anderen an Bord möglicherweise davon ab. Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu und drohte ihn zu ersticken.
Alderans Blick durchbohrte ihn, als wäre der alte Mann in der Lage, seine Gedanken zu lesen.
Er konnte nicht wegsehen.
»Du schaffst das, Gair.«
Diese tiefe, sanfte Stimme, die seine Ohren erfüllte, war lauter als der Sturm und gleichzeitig so leise wie ein Flüstern. Gewaltige Wellen brachen gegen den Rumpf der Kielkätzchen und krachten über das schwankende Deck, das sie von Menschen und Material zu säubern versuchten. Das Wasser brandete ihnen um die Füße. Über ihren Köpfen riss ein zu stark gespanntes Seil mit einem lauten Knall.
Gair zögerte. »Ich … ich glaube nicht, dass ich das kann. Der Wind ist zu stark!«
»Nicht denken, nur glauben! Glaube an den Sang. Vertraue dir selbst.«
Bei Alderans Worten umgab plötzlich ein Schwirren und Flattern seine Gedanken. Zuerst klang es noch blass und zerbrechlich, doch es wurde mit jedem Herzschlag stärker. Es war wie das Schlagen starker Schwingen. Weitere Töne erklangen, durchwebten die ersten, bildeten einen Wohlklang, der anschwoll und wuchs und sich gegen seinen Willen drängte. Er musste sich nur noch danach ausstrecken und ihn ergreifen.
Er konnte es nicht.
Hab keine Angst. Es wird dir nichts antun .
Alderans Stimme klang so deutlich und nah, als würden die Worte in Gairs Kopf ausgesprochen. Die nächste Welle brachte ihn fast zu Fall, und nur der starke Arm des älteren Mannes hielt ihn aufrecht. Das Seewasser traf ihn mit großer Wucht und blendete ihn kurzzeitig. Er blinzelte die Tropfen weg und bemerkte, dass Alderan ihn eindringlich anstarrte.
Berühre den Sang. Umarme ihn. Er ist ein Teil von dir, Gair. Er gehört zu dir .
»Ich habe Angst«, flüsterte er und ließ die Magie in sich hinein.
Sie durchflutete ihn. Der Sturm, das Meer, das Schiff wurden unwichtig. Er nahm das alles noch wahr, aber nur schwach, wie ein Gespräch in einem angrenzenden Raum. Nun erfüllte eine sich steigernde, erregende Musik all seine Sinne.
Instinktiv zuckte Gair vor ihr zurück. Er konnte das nicht tun! Die Magie konnte sich jederzeit gegen ihn wenden und ihn in Stücke reißen. Alderan hatte einen Fehler gemacht. Er hatte die Stalltür geöffnet, und statt eines kleinen, untersetzten Ponys aus dem Hügelland stand dort ein Kriegspferd mit feurigen Augen und starken, in der Schlacht erprobten Muskeln, das den Kopf herumwarf und vor Vorfreude schnaubte. Grundgütige Mutter, es würde ihn mit seinen Stahlhufen niedertrampeln und als genauso unwichtig ansehen wie die Rossäpfel in seinem
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