Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
ihn brauchte? Er hegte den Verdacht, dass der alte Mann etwas damit zu tun hatte. War es wirklich so, wie er sagte? Ging der Sang nie ganz weg? Wer war Alderan überhaupt? Heilige Mutter, wie ihm der Kopf wehtat! Aber er musste irgendwo beginnen …
»Der Sang – warum habe ich früher nie davon gehört?«
»Vermutlich hast du es, aber du weißt es nicht«, sagte Alderan, »oder du hast ihn unter anderem Namen kennengelernt. Du findest ihn in allen möglichen Legenden und Geschichten. Die Nordmänner sagen zum Beispiel, es sei das Lied, das der Lebensspender sang, als er in seiner Schmiede arbeitete, und ein Bruchstück davon stecke in allem, was er je erschaffen hat. An anderen Orten heißt es, es sei das Wiegenlied, das die Schöpferin ihrer Tochter, der Welt, vorgesungen hat und das durch die Zeiten hallt. Das ist eine schöne Geschichte und erklärt die Sache so gut wie jede andere.«
»Ist es Magie?«
»Wie definierst du Magie?« Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Wenn du sie als natürliche Kraft oder Energie beschreibst, die wesenhaft in allem Lebendigen steckt, das dich umgibt, dann ist der Sang Magie. Aber das ist eine hässliche Bezeichnung, nicht wahr? Sie hat zu viele Nebenbedeutungen.«
Gair erinnerte sich an Kemerodes schrillen Schrei und daran, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, als sie das Licht gesehen hatte, das er gemacht hatte. »Im Mutterhaus haben sie mich den Scheußling genannt«, sagte er, »und daheim war die Haushälterin der Meinung, ich sei ein Schattenkind, also halb Mensch und halb … nun ja, etwas anderes. Sie hat gesagt, die Feen hätten mich an der Kirchentür zurückgelassen.«
Alderan schürzte die Lippen. »Das Verborgene Königreich ist ein veränderlicher, trügerischer Ort, und seine Bewohner sind verschlagen, aber sie neigen nicht dazu, Halbblutbabys zu zeugen und den Menschen zu überlassen. Das ist ein Märchen. Die Kreaturen hinter dem Schleier leben lange und vermehren sich nur selten. Ihr Samen ist viel zu kostbar, um damit Schabernack zu treiben.« Er sah Gair an und fragte ihn: »Hast du etwa geglaubt, dass du nicht ganz von dieser Welt bist?«
»Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Mir war klar, dass ich anders war, aber ich hatte keine Ahnung, ob es die Magie war, die mich anders machte, oder ob es umgekehrt war. Und dann wurde ich zum Mutterhaus geschickt, wo alles, was ich lernte, geradewegs aus dem Buch Eador stammte.«
»›Einen Hexer oder eine Hexe sollst du nicht leben lassen‹«, sagte Alderan. »Das ist eine harte Lektion für einen kleinen Jungen.«
»Sie wussten nicht, was sie sonst mit mir machen sollten. Sie waren im Glauben erzogen worden – jeden Sonntag ein Messgang und an den Tagen der Heiligen zwei. Ich habe schreiben gelernt, indem ich die Psalmen für Pater Trommelhöller abgeschrieben habe. Woran hätten sie sich sonst halten sollen?«
Das rief bei Alderan ein abfälliges Grunzen hervor. »Kirchenmänner sollten sich nicht in die Erziehung der Kinder einmischen. Sie sperren die jungen Geister in einen Käfig ein, und wenn sie freigelassen werden, behalten sie die Gestalt bei, in die sie der Käfig gepresst hat.«
Obwohl Gair nicht gerade im Frieden von seinen Pflegeeltern weggegangen war, fühlte er sich verpflichtet, sie zu verteidigen. »Sie wollten nur das Beste für mich, Alderan.«
Der alte Mann zog eine Grimasse und schaute hinunter auf seine Hände. Er rieb sich die Finger, als ob sie schmutzig wären oder juckten. Die lange Pause, die folgte, war vom Platschen des Wassers gegen das Holz und vom Lärm der Zimmerleute erfüllt.
Dahinter hörte Gair den Sang, melodisch wie ein fernes Lied, rhythmisch wie das Schnurren einer zufriedenen Katze, gleichzeitig aber rauschend und stets sich verändernd wie ein dahinfließender Bach.
»Früher hätte man deine Gabe erkannt«, sagte Alderan leise. »Sie wäre als das angesehen worden, was sie ist, und statt dich dafür zu bestrafen, hätte man dir die Gelegenheit gegeben, sie zu entwickeln. Du wärest nicht geschmäht, sondern geachtet worden.« Er senkte den Blick wieder auf seine Hände. »Ich glaube, du bist tausend Jahre zu spät geboren worden.«
Zu spät wofür? »Das verstehe ich nicht.«
»Während des Ersten Reiches wurden den Wächtern des Schleiers der Respekt gezollt, den sie verdienen. Sie unterhielten Schulen in allen großen Städten, und kein Talent ging verloren. Wenn du damals geboren worden wärest, hättest du dir in ihrem Orden große
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