Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
werdenden Art. Du kannst die Lieder der Erde hören und an eine Macht rühren, die so gewaltig ist, dass sie Berge aufzutürmen vermag, aber gleichzeitig ist sie so fein, dass sie tausend Blütenblätter zu einer Chrysanthemenknospe falten kann, die nicht größer als dein Daumennagel ist. Das ist eine unschätzbare Gabe, und der Zugang zu dieser Art von Macht wird dich etwas kosten. Der Preis, den du zahlen musst, ist Zurückhaltung.«
Der alte Mann drehte sich rasch auf dem Absatz um. »Was du mit dem Sang anfängst, zählt, und warum du es tust, ist sogar noch wichtiger. Du musst die Verantwortung für das Endergebnis tragen, was immer es sein mag. Manchmal ist der Unterschied zwischen Handeln und Untätigsein der Unterschied zwischen Narrheit und Weisheit. Das Wissen darum, wie diese Macht zu handhaben ist, ist bedeutungslos, wenn du nicht auch weißt, wie du sie zu gebrauchen hast – und wie nicht . Das ist meine erste Lektion.«
Gair blinzelte. So hatte er Alderan noch nie reden hören. Er hatte sich an den Humor und die Leichfertigkeit des Mannes gewöhnt, doch diese stahlharte und gebieterische Seite war wie ein Schock für ihn. Nach einem Augenblick des Schweigens sagte er: »Ich verstehe.«
»Das war mir klar. Wenn ich daran gezweifelt hätte oder mir deiner nicht sicher gewesen wäre, hätte ich mich geweigert, dir mehr beizubringen, als du brauchst, um dich nicht selbst in Stücke zu reißen. Mit Menschen, die sich vor Anmaßung oder Gier verzehren oder von ihrer eigenen Großartigkeit besessen sind, kann ich nichts anfangen. Der Sang existiert nicht, um dir zu dienen, auch wenn er genau das tun wird. Jeder, der die Gabe besitzt, kann sie zu jedem Zweck einsetzen, der ihm passt, und daher haben diese Menschen die Pflicht, sie klug einzusetzen.«
Alderan hielt inne. Sein Mund öffnete sich, als wollte er noch etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders.
Gair fragte sich, was nun ungesagt geblieben war. Ganz kurz, bevor Alderans Miene wieder sanfter wurde, hatte er einen alten Schmerz darin erblickt, aber dieser war sofort wieder verschwunden, und der alte Mann kratzte sich heftig am Bart und streckte das Kinn vor wie ein Hund, der einen lästigen Floh verfolgte.
»Was kannst du denn schon?«, fragte er barsch. »Kannst du das hier?«
Gair spürte ein Prickeln im Kopf, und sofort erschien eine perlweiße Kugel von der Größe einer Walnuss in der Luft zwischen den beiden Kojen. Sie spendete ein sanftes, silbriges Licht: Lumiel im Kleinformat. In ihm brandete der Sang auf. Gair konzentrierte sich und erschuf eine eigene Leuchtkugel. Sie war eher blau als weiß, und in ihr wirbelte es, als wäre sie mit Rauch gefüllt, aber sie war genauso hell. Das war das Zweite, was er gelernt hatte, nachdem er die Kerzen hatte explodieren lassen.
Alderan nickte anerkennend. »Gut gemacht. Das nennt man einen Glimm. Eigentlich wäre das meine nächste Lektion gewesen, aber du bist schließlich kein normaler Schüler, oder?« Ein breites Grinsen erschien auf Alderans bärtigem Gesicht. »Was beherrschst du sonst noch?«
»Ich kann Feuer machen, Luft bewegen … in der Hauptsache einfache Dinge, wie Ihr gesagt habt. Wenn ich etwas Größeres versucht habe, ist es in der Regel schiefgegangen.«
»Du bist nicht der Erste, der den Sang ruft und von ihm gebissen wird. Aber du wirst mit der Zeit lernen, wie du den Zähnen entgehen kannst.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Wie weit willst du gehen?«
»Ich weiß nicht …«
»Dann kann ich dir nicht sagen, wie lange die Reise dauern wird. Ich studiere den Sang, seit ich in den Windeln lag, und jetzt bin ich ein alter Mann mit schmerzenden Gelenken und einer Blase, die mich jede Nacht aus dem Bett treibt, und ich weiß noch immer nicht alles, was ich tun kann. Ich weiß nicht einmal, ob es irgendwelche Grenzen gibt. Vielleicht wirst du derjenige sein, der sie findet, wenn du dich ganz dieser Aufgabe widmest.«
Gair streckte den Finger aus und berührte die Oberfläche des Glimms. Die Farben wirbelten um seine Fingerspitze und verursachten ein Prickeln wie von Brause auf der Haut. »Ihr nennt es eine Gabe«, sagte er und tastete sich langsam zu dem vor, was er wissen wollte. »Kommt sie von der Göttin?«
»Das hoffe ich. Nicht jeder wird damit geboren, aber es wird auch nicht jeder mit der Fähigkeit zu singen geboren. Wenn du daran glaubst, das die Göttin einigen von uns Zinnohren schenkt und anderen das absolute Gehör verleiht, hast du meiner Meinung
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