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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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einfach zu viel. »Ich kann nicht mehr«, sagte sie laut. Es schüttelte sie am ganzen Körper. Sie wollte sterben, bevor die Schmerzen schlimmer werden konnten. »Mammi, hilf mir, Mammi«, schluchzte sie.
    Plötzlich legte sich ein starker Arm um ihre Schultern, und eine Frauenstimme an ihrem Ohr murmelte unverständliche, aber beschwichtigende Worte auf Dari. Ohne die Augen zu öffnen, hielt sie sich an der Frau fest, weinend und laut schreiend, als die Kontraktion immer stärker wurde; allmählich ließ sie nach, allzu langsam, jedoch auf eine Art, als könnte es die letzte gewesen sein, jedenfalls die letzte schlimme.
    Sie blickte auf und erkannte die ernsten braunen Augen und Runzelwangen der alten Rabia, der Hebamme. »Möge Gott mit dir sein, Jane Debout.« Jane fühlte sich erleichtert, wie von einer erdrückenden Last erlöst. »Und mit dir, Rabia Gul«, flüsterte sie dankbar.
    »Kommen die Wehen schnell hintereinander?«
    »Alle ein oder zwei Minuten.«
    Eine andere Frauenstimme sagte: »Das Baby kommt zu früh.«
    Jane drehte den Kopf und sah Zahara Gul, Rabias Schwiegertochter, eine üppige junge Frau in Janes Alter. Sie hatte welliges, fast schwarzes Haar und einen breiten, lachlustigen Mund. Von allen Frauen im Dorf war Zahara diejenige, der Jane sich am nächsten fühlte.
    »Ich bin froh«, sagte sie, » dass ihr hier seid.«
    Rabia sagte: »Das Baby kommt so früh, weil du Mousa den Hang hinaufgetragen hast.«
    »Ist das alles?« fragte Jane.
    »Das genügt doch.«
    Also wussten sie nichts über ihre Auseinandersetzung mit Abdullah, dacht e Jane. Er hat beschlossen, die Geschichte für sich zu behalten.
    Rabia fragte: »Soll ich alles für das Baby bereit machen ?«
    »Ja, bitte.« Weiß Gott, auf was für eine Art von primitiver Gynäkologie ich mich da einlasse, dachte Jane; aber allein schaff ich’s nie, nein, ich schaff s nicht.
    »Möchtest du, dass Zahara Tee kocht?« fragte Rabia.
    »Ja, bitte.« Dies zumindest hatte mit Aberglauben nichts zu tun.
    Die beiden Frauen machten sich an die Arbeit. Schon ihre Gegenwart hatte für Jane etwas Tröstliches. Es war nett, dacht e sie, dass Rabia um Erlaubnis gebeten hatte, ihr zu helfen - ein westlicher Arzt wäre hereinmarschiert und hätte sich benommen, als ob ihm das Haus gehörte. Rabia wusch sich rituell die Hände und rief die Propheten an, sie
    › rotgesichtig ‹ zu machen - was Erfolg verhieß -, und wusch sich dann noch einmal sehr gründlich mit Seife und viel Wasser. Zahara brachte ein Gefäß mit wilder Raute, die Rabia anzündete. Jane erinnerte sich daran, dass es hieß, der Geruch brennender Raute vertreibe böse Geister. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass der beizende Rauch helfen würde, die Fliegen fernzuhalten.
    Rabia war ein wenig mehr als nur Hebamme. Geburtshilfe bildete zwar ihre Hauptarbeit, jedoch verstand sie sich auch, mit Hilfe von Kräutern und Magie, auf die Behandlung von Frauen, die Schwierigkeiten hatten, schwanger zu werden. Sie wusste um Methoden zur Empfängnisverhütung oder Abtreibung, die allerdings weniger gefragt waren: afghanische Frauen wünschen sich im allgemeinen viele Kinder. Auch bei jeder Art › weiblicher ‹ Krankheit wurde Rabia um Rat gefragt. Und für gewöhnlich wurde sie gebeten, die Toten zu waschen - eine Arbeit, die, genau wie die Geburtshilfe, als unrein galt.
    Jane beobachtete, wie sie im Zimmer umherging. Wahrscheinlich war sie die älteste Frau im Dorf, so um die Sechzig. Sie war klein - kaum über einsfünfzig - und sehr dünn, wie die meisten Menschen hier. Ihr runzliges, braunes Gesicht war umrahmt von weißem Haar. Sie bewegte sich langsam, ihre knochigen alten Hände waren geschickt und zuverlässig.
    Anfangs war ihr Verhältnis zu Jane voller Misstrauen und Feindseligkeit gewesen. Als Jane gefragt hatte, wen Rabia im Fall einer schwierigen Entbindung rief, hatte Rabia gefaucht:
    »Möge der Teufel taub sein, ich habe noch nie eine schwierige Entbindung gehabt, und ich habe noch nie eine Mutter oder ein Kind verloren.« Doch als dann später Frauen aus dem Dorf mit kleineren Menstruationsproblemen oder normalen Schwangerschaften zu Jane kamen, hatte sie, statt ihnen Placebos zu verschreiben, sie zu Rabia geschickt; von da an hatte sich eine Zusammenarbeit entwickelt. Rabia hatte Jane wegen der Vaginalinfektion einer vor Kurzem entbundenen Frau befragt, und Jane hatte ihr Penicillin gegeben und erklärt, wie es anzuwenden sei. Rabias Prestige war gewaltig gestiegen, als

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