Die Maya-Midgard-Mission
täglichen Hatz suchten. Bis auf ein paar Westinder und Exoten sind wir ausschließlich weiße Europäer, westlich erzogen, westlich im Denken, westlich im Handeln. Die meisten von uns sind moderne Kommunikationsmittel gewohnt, vertraut im Umgang mit Computern und Autobahnen, vernetzt in wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten. Wir sind doch schon gar nicht mehr lebensfähig ohne Steckdose, ohne Fastfood und ohne Online-Autobahn und Daten-Highways. Wie sollen wir hier in diesem Ausnahmezustand spirituell reifen, wenn wir das nicht mal in unserer gewohnten Umgebung schaffen. Geschafft haben. Wenn wir uns nicht einmal mit dem Schock des Hierbleibenmüssens – für länger, für immer gar – auseinandergesetzt haben. Ein paar tröstende Worte, eine hilfreiche Hand, ein gemeinsames Gebet. Alles schön und gut. Gibt es hier wie überall auf der Welt. In Zeiten der Not rücken die meisten Menschen ein bisschen zusammen. Doch machen wir uns nichts vor: Das ist kein Zeichen für geistig-seelisches Wachstum, das ist eine Mischung aus Verzweiflung, Hoffnung und Angst. Die platzt irgendwann früher oder später wie eine Seifenblase. Kann sogar gefährlich werden, sobald die Hoffnung stirbt. Hast du mitbekommen, wie penetrant sich Paulette über die Sandkörner in Hippolytes Suppe mokiert hat? Oder wie lächerlich eifersüchtig unser Drogenbaron auf Wolf Martens geradlinige Art reagiert? Wie trotzig das junge Pärchen darauf besteht, die einzige Isodecke mit Beschlag zu belegen, obwohl sie Andhra und ihrem Baby zustünde? Und wie sehr sich die ansonsten so besonnene Schwedin, ehm Britta, glaube ich, darüber aufregt? Dieses Hauen und Stechen, wie kleine Kinder, die ihre Grenzen abstecken müssen. Als gäbe es nichts Wichtigeres. Die Leute haben nicht kapiert, dass sie für lange Zeit, vielleicht für immer hier zusammen leben müssen. Die sind genervt, dass sie keine Kaffeemaschine mehr haben und ihr Handy versagt und wollen nach Hause, und sonst nichts."
" Für einen Gottesmann und Schmetterlingssammler bist du aber ganz schön desillusioniert, Dom. Wo bleibt dein Glaube? Sollte der nicht dein Vertrauen in das Wesen aller Dinge nähren? In die Fügung, ich meine, na ja, ich bin kein Priester. Ich bin nicht mal ein religiöser Mensch. Aber mein eigener Glaube ist ziemlich stark, weißt du? Und wer hat behauptet, dass wir für immer hier gefangen sind?"
Domnall O 'Domhnaill verschränkte die Arme vor seiner mächtigen Brust. "Ich mache mir nichts vor. Das ist alles. Wir haben kein Lebenszeichen von außerhalb. Kein Funk, kein Telefon, außer Sean Gandis Anruf von Cinnamon, keine Fähre, kein Flugzeug, kein Internet, keine Lichter am Horizont, kein gar nichts. Der Meeresspiegel hat sich verändert. Oder der Erdkrustenspiegel. Oder die Pole haben sich verschoben. Oder was sonst. Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass ich nichts weiß! Ach verflixt! Gottgewollt oder nicht. Ich kenne die Menschen. Katastrophe hin, Seelenheil her: Zuerst müssen die Grundbedürfnisse befriedigt werden. Und dann kommt lange Zeit nichts. – Und wozu auch? Reife! Ich meine, auf welchen Zustand hin sollen wir uns entwickeln? Hast du da konkrete Vorstellungen, Daria? Du oder dein Federmann?"
" Ich weiß, dass wir einen weiten Weg vor uns haben", sagte Daria und streichelte mit ihren Fingerkuppen vorsichtig Doms Handrücken. Wie zart seine Haut war. Sie freute sich, dass der große Ire seinen Gefühlen zumindest verbal freien Lauf ließ. Sie fasste es als Vertrauensbeweis auf, dass er es im Gespräch mit ihr tat. Doch sie wollte mehr. "Im Augenblick sind wir alle verwirrt. Todesängste, Lebensangst, der Verlust der bekannten Welt. Keine E-Mails, kein SMS, und doch sind wir auf Gedeih und Verderb auf funktionierende Kommunikation angewiesen. Es stimmt schon. Wie soll da die Spiritualität hineinpassen? Ich glaube aber fest daran, dass jeder Mensch den Hunger nach Erkenntnis verspürt. Der Magen mag knurren, aber auf kurz oder lang meldet sich auch die Seele. Selbst ein Typ wie Guillaume Raboux will wissen, wieso es ausgerechnet ihn in diese Lage gebracht hat. Caldera interessiert sich für die Bücher der Sechsten Sonne, als wolle er mir Konkurrenz machen. Ich meine ja nicht, dass wir alle betend und sektiererisch durch die Gegend stromern und uns selbst beweihräuchern sollten. Die Maya waren extrem spirituelle Menschen. Trotzdem haben sie ihre geistige Reife eher materiell zum Ausdruck gebracht: in rituellen Kämpfen, in Stelen, in Fresken, in
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