Die Mondrose
glücklich, weil sie Limonade trinken und von Robert schwatzen durfte, der bald wieder spielen und lernen würde. »Weil du ihn heilgemacht hast, Vater.«
»Ich bin kein Gott, Esther. Ich kann Kranke behandeln, nicht sie heilmachen.«
»Wenn ich groß bin, mache ich auch Kranke heil«, erwiderte Esther ungerührt.
Ackroyd lachte. »Wirklich schade, dass Ihre Tochter kein Junge ist. Der würde in Ihre Fußstapfen treten.«
Wäre Louis in seine Fußstapfen getreten? Die Sehnsucht nach seinem Sohn überfiel ihn einmal mehr mit einer Macht, die solche Gedanken lächerlich unwichtig machte. Ackroyd hatte offenbar bemerkt, an welche Wunde er gerührt hatte, denn er verstummte und senkte beschämt den Kopf.
»Dürfen nur Jungen Arzt werden, Vater?« Esthers Augen waren weit aufgerissen und die kleine Stirn in Falten gelegt.
»Ja«, antwortete Hyperion unwirsch, weil er das Gespräch kaum ertrug. »Und das ist auch gut so. Von jetzt an bleibst du zu Hause, verstanden?«
Esther öffnete den Mund. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als eine der Schwestern in die Tür trat, sich umsah und auf ihren Tisch zusteuerte. »Ah, Dr. Weaver.« Hyperion wurde kalt. Sie würde ihm sagen, dass Robert gestorben war, dass ihre eitle Freude nur ein Hohn gewesen war.
Die Schwester lächelte. »Sie haben Besuch«, sagte sie und winkte eine zweite Person, die noch in der Tür stand, herein. Die zweite Frau, die in die schlecht ausgeleuchtete Kantine trat, war klein und hatte dichtes braunes Haar, das in Wellen unter ihrer Haube hervorfiel.
Mit einer leisen Art von Grazie trat sie vor den Tisch und knickste. Jetzt erst erkannte Hyperion, dass sie keineswegs eine Frau, sondern ein Mädchen von höchstens zwölf Jahren war. Sie trug einen der Körbe am Arm, in denen sonst der Bursche des Metzgers ihnen Wurst brachte. »Das Spital gehört ab heute zu meiner Schicht«, sagte das Mädchen. »Also dachte ich, ich schaue einmal, ob ich Sie finden und mich bedanken kann. Das wollte ich nämlich schon lange tun.«
Sie war von außergewöhnlicher Schönheit, fand Hyperion. Nicht, weil etwas an ihr spektakulär war, sondern weil ihr Gesicht eine innere Ruhe und Stärke ausstrahlte, wie er sie nie zuvor bei einem Kind gesehen hatte. Ihre Stimme war auch schön, und sie sprach wie ein Mensch, der seiner selbst ganz sicher ist. Der grobe Dialekt, der zu den schäbigen Kleidern gepasst hätte, fehlte, und beim Lächeln entblößte sie zwei Reihen makelloser Zähne, wie man sie bei Menschen ihres Standes kaum je fand.
Zweifellos erwartete sie eine Entgegnung von ihm. Als ihm keine einfiel, lachte sie auf. »Erkennen Sie mich nicht wieder?« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Lydia Burleigh. Sie haben mir in den Hals geschnitten und mich von der Bräune gerettet.«
Hyperion konnte nicht glauben, was er hörte, und noch weniger, was er sah. »Du … du hast überlebt?«, stotterte er, was so albern klang, dass sogar die ernste kleine Esther lachen musste.
»Aber ja doch«, erwiderte Lydia Burleigh fröhlich und fischte etwas aus dem Korb. »Das musste ich ja, ich hatte doch meinen Abakus.«
Noch immer ohne Fassung nahm Hyperion das alte Spielzeug in die Hand. Von den hölzernen Perlen war die Farbe fast völlig heruntergeschabt, als hätte sie ihn ständig benutzt.
»Im Arbeitshaus haben mich alle Kinder darum beneidet«, erzählte sie. »Und ich habe mir fest vorgenommen, nie wieder krank zu werden, damit ich in die Schule gehen und lernen kann, wie man ihn richtig benutzt.«
»Und hast du dein Ziel erreicht?«
Sie nickte. »Meine Mutter hat uns aus dem Arbeitshaus herausgeholt. Sie hat eine Stellung im Haushalt gefunden, und dann haben wir beide jeden Penny gespart und jede Woche mit dem Abakus ausgerechnet, wie viel wir schon haben. Jetzt gehe ich auf Pounds’ Armenschule. Jeden Tag, wenn ich kann. Nur am Abend trage ich Lebensmittel aus.«
Bisher hatte Hyperion geglaubt, in dem einstöckigen Gebäude, in dem John Pounds seine Schule für die Kinder der Armen begründet hatte, würden nur Jungen unterrichtet. An Entschlossenheit nahm es dieses Mädchen jedoch spielend mit jedem Jungen auf. Unbändige Freude packte ihn, ein tief verschüttetes Gefühl. Er hob das Glas, das Ackroyd ihm hingestellt und das er nicht hatte trinken wollen. »Mein Kollege hat recht«, erklärte er, »wir haben wohl wirklich etwas zu feiern.«
»Danke, Herr Doktor«, sagte das Mädchen.
»Danke, dass es dich gibt«, erwiderte Hyperion.
Die
Weitere Kostenlose Bücher