Die Nacht des Satyrs
musst müde sein.«
Tatsächlich lehnte sie sich zurück, gähnte und streckte sich. »Ja. Du nicht?«
»Wir Satyrn sind nach einer Rufnacht erfrischt, was auf unsere weiblichen Opfer nicht zutrifft.«
Der makellose Umhang absoluter Beherrschtheit war zurück. Allerdings wusste Jordan inzwischen mehr über das, was sich darunter verbarg. Raines Leidenschaft hatte vergangene Nacht über seine selbstauferlegte Zurückhaltung gesiegt. Und Jordan hatte es geliebt! Sie liebte ihn. Aber sie spürte auch, dass er sich nur weiter von ihr zurückziehen würde, sollte sie beharrlicher versuchen, ihn ins Bett zu locken.
Sie gähnte nochmals und sah ihn an. »Was immer du glauben magst – ich war letzte Nacht nicht dein Opfer. Und ich liebe dich wirklich.«
»Du hast mehr über mich erfahren, was ich bin«, erwiderte er und stopfte grob die Hemdzipfel in seinen Hosenbund. »Aber du kennst mich nicht. Du kennst nicht einmal dich selbst.«
»Was ist so schrecklich daran, dass die letzte Nacht meine Gefühle für dich verändert hat?«
Muskeln wölbten sich auf seiner Brust, wo das Hemd noch offen stand, und eine Sehne seitlich an seinem Hals zuckte. Er holte tief Atem, als er sie musterte, und schien kurz davor, in tausend Stücke zu zerbersten.
Jordan setzte sich auf. »Raine, was ist los?«
Statt zu antworten, hob er das Kleid auf, das er ihr gestern Abend heruntergerissen hatte, als wollte er es ihr reichen. Ein Ausdruck von Ekel wanderte über sein Gesicht. Offenbar erinnerte er sich erst jetzt, dass er es vollkommen ruiniert hatte. Er schleuderte es wieder auf den Boden und ging ins Nebenzimmer. Sie hörte, wie er ihren Schrank öffnete. Im nächsten Moment war er wieder bei ihr und schleuderte ihr ein frisches Kleid, Schuhe und einen Schal hin.
»Zieh dich an, und komm mit mir!«, befahl er. »Ich zeige dir, was es ist, das du zu lieben glaubst.«
Nachdem er sich fertig angezogen hatte, stand er vor ihr, ungeduldiger denn je. Und kaum war sie angekleidet, scheuchte er sie durchs Haus, durch den hinteren Garten und weiter.
Milchig-pinkfarbenes Morgenlicht fiel in Bahnen durch das Weißdornlaub über ihnen. Jenseits der Bäume strich kühler Wind über eine taubenetzte Wiese, die im fahlen Sonnenlicht beinahe bernsteinfarben aussah.
Raine hielt Jordan beim Handgelenk und zerrte sie mit sich, als erwartete er, dass sie versuchte, ihm zu entfliehen. Doch sie ging freiwillig mit, denn sie brannte darauf, zu erfahren, was er ihr über sich enthüllen wollte.
Er zog sie vorwärts über die Wiese und in das nächste Waldstück, wo violetter Phlox und Rotklee wild wuchsen. Kleine Büschel von wildem Thymian zeigten sich hier und dort, und die Luft duftete nach Tau.
Auf dem Weg hob er Jordan einmal über eine von Flechten überwucherte Steinmauer, einmal über einen plätschernden Bach oder hielt Olivenzweige für sie beiseite. Diese kleinen Höflichkeitsbeweise genoss sie nach wie vor sehr und freute sich beinahe, wenn ein Hindernis auftauchte.
Schließlich gelangten sie durch eine Reihe laubumrankter korinthischer Säulen auf eine große kreisförmige Lichtung. Raine zog Jordan in die Mitte, wo er abrupt stehen blieb, nun hinter ihr, und sie bei den Oberarmen hielt. »Hier, schau dich um!«
In gespannter Stille wartete er ab, dass sie sich ihre Umgebung ansah. Sie tat, was er verlangte, ließ den Blick langsam von links nach rechts wandern und nahm alles in sich auf. Warum hatte er sie hergebracht? Was sollte sie hier sehen?
Altäre sprenkelten die Lichtung wie weiße Tische bei einer Hochzeitsfeier, die auf Gäste warteten. Am äußeren Rand erhoben sich überlebensgroße Statuen, die einen Kreis bildeten. Es waren Dutzende, und alle höchst meisterhaft gearbeitet. Sie waren wunderschön, anzüglich und kamen Jordan seltsam vertraut vor.
Plötzlich erkannte sie es, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie löste sich von ihm und schritt einmal den Kreis ab, so dass sie jede einzelne der Statuen genauer betrachten konnte. Um diejenigen weiter hinten auf der Lichtung wucherten Wildgräser und -pflanzen.
Nervös verschränkte Jordan ihre Hände vor dem Oberkörper und blickte sich auf der Erde um. »Gibt es hier Schlangen?«
»Schlangen?« Er sah sie an, als spräche sie Chinesisch. »Nein. Wie kommst du auf diese Frage?«
Verlegen zuckte sie mit den Schultern.
Fast schlafwandlerisch trat sie vor eine der Statuen. Es war eine besonders reizvolle Skulptur, die eine Nymphe darstellte. Spärlich von
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