Die Nanowichte
beobachtete, wie Tiemecx auf die Armlehne des Stuhls hüpfte, auf einem Bein balancierte und mit Hilfe seines krummen Schnabels und seiner atemberaubend flinken Krallen ganz locker den riesigen Schlüsselbund loshakte, der am Gürtel des dösenden Wächters hing. Nur wenige Sekunden später hatte sich der Vogel wieder durch die Gitterstäbe gequetscht und machte sich vergnügt über den Haufen Bucheckern her. Hogshead starrte fassungslos auf den Schlüsselbund. Sollte er es wirklich wagen? Immerhin: Ausbruch aus dem Gefängnis, damit machte man sich strafbar! Aber andererseits: Wenn er es nicht versuchte, wurde er wahrscheinlich aufgeknüpft … Auch wenn er keine Ahnung hatte, weswegen.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er durch das Gitter faßte und die Schlüssel durchprobierte. Und als dann der fünfte Schlüssel sperrte, und der riesige Eisenriegel zurückglitt, hätte er um ein Haar einen Freudenschrei ausgestoßen. Er stieß die Tür, lief auf den Korridor und rannte davon.
»Ein Mord, sagst du?« knurrte Überwachtmeister Strappado kurze Zeit später.
»Jawoll, Chef. Ein unbefugter Mord!« sagte Wachtmeister Ryffel und polierte sich selbstgefällig die Fingernägel an seiner schwarzen Latzhose. »Es gibt keine einschlägigen Unterlagen. Nicht ein Stück Pergament. Nirgends. Der erste Fall seit Jahren. Der Täter ist bereits verhaftet, Chef. Von mir, Chef!«
»Schon?«
»Jawoll, Chef. Da isser!« Ryffel stand auf zeigte auf die vergitterte Zellentür, die sanft auf und zu schwang.
Aus irgendeinem Grund konnte Ryffel zuverlässig vorhersehen, daß er in absehbarer Zukunft nicht mit einer satten Gehaltserhöhung rechnen konnte.
»Wache!« schrie Strappado. Tiemecx schluckte eben noch die letzte Buchecker hinunter, blickte um sich und kreischte. Dann hob er ab und flog hinter Hogshead her, seiner neu entdeckten Quelle für Knabberzeug.
»Wache! Verfolgt diesen Vogel!« brüllte Strappado sarkastisch. »Ryffel will ihn wegen Mordes einlochen!«
Alle schauten jetzt auf den verwirrten und scheußlich verlegenen Ryffel, der feuerrot anlief. Er hatte doch keinen Vogel verhaftet! Ganz bestimmt nicht!
»Raus mit dir! Zurück auf deinen Posten, du erbärmlicher Hanswurst!« knurrte Strappado. »Mord sagt er. Da fragt man sich doch wirklich! In Guldenburg gibt es keine Mordfälle mehr. Das haben wir schließlich alles geregelt!«
»Heute abend?« fragte Meyer Khulpa, der Bürgermeister gereizt und starrte auf das hastig hingepinselte Plakat, das sein Sekretär hochhielt. »Und warum hat man mich nicht informiert? Öffentliche Veranstaltung, pah! Nicht gerade sehr öffentlich, wenn ich nichts davon weiß, oder?«
»Ich informiere Sie ja gerade, Euer Ehren.« Der Sekretär zuckte jämmerlich.
»Wäre doch durchaus möglich, daß ich schon anderweitig verpflichtet wäre«, bemerkte Meyer Khulpa. »Könnte doch sein, daß ich bereits bei allen möglichen anderen Veranstaltungen zugesagt hätte. Bei was weiß ich wie vielen kostenlosen Diners zum Beispiel …«
»Äh … heute abend haben Sie keine Termine«, stöhnte der Sekretär.
»Was?« Meyer Khulpa umklammerte unglücklich seine angemessen bürgerlich ausgestattete Taille. »Kein Gratisdiner? Was erwartet man eigentlich von mir? Daß ich mich selbst durchschlage? Was ist eigentlich mit den Freunden von der HGB? [17] Es ist jetzt Wochen her, daß die meine Arbeit mit einem gebührenden Galadiner honoriert haben!«
»Bei der HGB waren Sie vor vier Tagen«, grunzte der Sekretär und schüttelte sein frühzeitig kahl gewordenes Haupt.
»Unsinn. Ist fast einen Monat her. Kann gar nicht anders sein!«
»Sie waren da bei einer Preisverleihung und haben die Auszeichnungen für verdienstvolle Tätigkeit auf dem Gebiet der Makrameeknüpferei und der Kreuzstichstickerei überreicht …«
»Ach ja?«
Der Sekretär nickte. »Ach ja! Donnerstag letzter Woche.«
»Hmmm. Trotzdem: Wird Zeit, daß die mich wieder einmal einladen. Ich gehe heute abend da hin. Und nicht auf diese öffentliche Veranstaltung …«
»Ich glaube nicht, daß Sie das tun werden!« Die Tür wurde eingetreten, und ein molliger Junge baute sich großspurig vor dem Bürgermeister auf. Die Jünger, die ihm in großer Schar folgten, schauten verstört drein. Alle stellten sie sich ein und dieselbe Frage: Warum sollten sie durch einen Antrittsbesuch beim Bürgermeister stinkreich werden?
»Was bildet ihr euch eigentlich ein, hier einfach so hereinzuplatzen?« legte der Sekretär los.
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