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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Friedhof auf der Bergkuppe niedergelassen. Die Ebene liegt totenstill vor ihnen, und die Stille wirkt beängstigend. «Sie haben Halabja angegriffen», sagt der Vater. «Ich glaube, es ist besser umzukehren.» Mehr wird nicht gesagt, doch der Leser weiß, was die Romanfiguren noch nicht wissen: Was sie soeben beobachtet haben, war der Senfgas-Angriff der irakischen Luftwaffe auf Halabja vom März 1988, in dem an die fünftausend Einwohner des Städtchens, vorwiegend Kurden, den Tod fanden.
    Der kleine Kerim hat Friedenszeiten nie kennengelernt. Seit seiner Geburt folgt ein Krieg auf den anderen. Die Minderheiten – Kurden, Chaldäer und andere orientalische Christen – leben in ständiger Angst vor Verfolgung. Kerims Vater betreibt eine kleine Gastwirtschaft im nördlichen Gebirge, nahe einer der großen Überlandstraßen nach Süden. Die Familie ist geduckt und eingeschüchtert, denn sie ist kurdisch-alewitischer Herkunft und hat die Staatsmacht zu fürchten. «Kerims Eltern verhielten sich vorsichtig. Überall gab es Leute des Geheimdienstes, und ihnen arbeitete ein Heer von Spitzeln zu.»
    Nur ein einziges Mal wagt der Vater, sonst die ängstliche Anpassung in Person, aufzumucken. Zwei Geheimdienstler aus Bagdad machen im Gasthaus Rast, prahlen laut mit ihren Schreckenstaten, und einer von ihnen brüstet sich, sie hätten mit dem Kopf eines gefangenen Spions Fußball gespielt. Da knallt ihnen der empörte Gastwirt ihre Teller auf den Tisch, läuft ihnen dann auf den Parkplatz nach und stellt sie zur Rede. Kurz darauf ist er tot: Die Männer haben ihn einfachmit ihrem Range Rover überrollt. Der junge Kerim ist nun das Familienoberhaupt und muss das Gasthaus übernehmen.
    In den fünf Teilen seines Romans folgt Sherko Fatah den so abenteuerlichen wie bedenklichen Wendungen im Leben seines Protagonisten – vom Gastwirt zum Jihadisten, vom Terroristen halb wider Willen zum Abtrünnigen, vom Flüchtling und blinden Passagier im dunklen Bauch eines Frachtschiffs zum Asylanten in Deutschland, vom entwurzelten Exilanten zum Fundamentalisten in einem der Berliner Moscheenvereine.
    Kerim ist ein typischer gebrochener und zwiespältiger Sherko-Fatah-Held: ein im Grunde unpolitischer Junge, ein stiller und verschlossener Mensch, der in die Fänge von Gotteskriegern gerät und sich – aus Mimikry oder aus Überzeugung? – radikalisieren lässt, halb Terrorsympathisant und Mitmacher, auch bei Gräueltaten, halb Abtrünniger und Verräter, ein Extremist ohne Glaubensfanatismus, ein Seitenwechsler ohne Standpunkt, ein leerer Mensch auf der Suche nach Zugehörigkeit, stets empfänglich für radikale Ideologien und manipulierbar durch charismatische Gestalten und meinungsstarke Einflussfiguren. Einer Schuld ist er sich kaum je bewusst, höchstens in Form eines vage unguten Gefühls; über die moralische Tragweite seiner Handlungen reflektiert er nicht. Nie ist er Herr seines eigenen Lebens, immer ist er fremdgesteuert und schwankt zwischen unterschiedlichen Loyalitäten, Täter und Opfer zugleich. «Du wirst mir immer unheimlicher», sagt seine Berliner Freundin. «Kerim sagte nichts dazu.»
    Wie ließe sich über den versunkenen Irak von einst angemessen erzählen? Die definitive Form kann nur eine der Annäherung sein. Najem Wali wählt die Erzählform des Entwurfs. «Engel des Südens. Die Bücher von Amaria», sein Epos über den verschwundenen Irak der Völkervielfalt und religiösen Toleranz, ist in 193 Entwürfen angelegt, die sich in immer neuen Anläufen ihrem Gegenstand annähern, ihn umkreisen und einkreisen im Versuch, die Fragmente eines zerbrochenen Narrativs zu einer Großen Erzählung im Sinne Lyotards zusammenzufügen. Es entspricht dem Bauprinzip dieses Romans, dass diese Erzählschleifen sich in Wiederholungen vollziehen, die in subtilenNeuansätzen das anderswo bereits Gesagte wiederaufnehmen und variieren, die Themen und Motive immer wieder anders und neu wenden und die Bruchstücke in einen jeweils anderen Kontext stellen.
    Eine solch gewundene, digressive und repetitive Erzählstrategie, in der die Diskurse sich überkreuzen, erfordert die Geduld und den langen Atem des Lesers, belohnt ihn allerdings mit einem dichten, vielschichtigen, farben- und nuancenreichen
Grand Récit
über den Irak, der seinesgleichen in der Literatur nicht

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