Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Ende 1957 nach längerer Lagerhaft entlassen.
Währenddessen folgte NgÅ©gÄ© seinem Traum von Bildung. Das Lernen war seine Zuflucht vor den Misslichkeiten der Zeit. Er entdeckte die Heilige Schrift. Die Bibel wurde sein Zauberbuch, die Figuren der Bibel, vor allem des Alten Testaments, wurden seine Gefährten. Er schulte sein Englisch an der Bibelsprache und begann, sich dem Christentum zu nähern. Einerseits blieb er den alten Stammestraditionen verpflichtet und lieà den Initiationsritus der Beschneidung an sich vollziehen. Andererseits liebäugelte er eine Zeit lang damit, römisch-katholisch zu werden. Doch dann schrieb er sich bei Reverend Kahahu für die Taufe ein, um Mitglied der Presbyterianischen Kirche Ostafrikas zu werden. «Man musste sich christliche Namen aussuchen. Ich neigte zu James Paul. Reverend Kahahu meinte, ein Name wäre ausreichend. Und so wurde ich durch das christliche Ritual der Taufe mit Wasser James NgÅ©gÄ©, der Name, unter dem ich Jahre später, bis 1969, meine frühen journalistischen Arbeiten und Romane veröffentlichte. Dann kehrte ich zu NgÅ©gÄ© wa Thiongâo zurück.»
Selbst als Ngũgĩ 1954 die Aufnahmeprüfung in die
Alliance High School
, die beste und prestigeträchtigste Oberschule des Landes, glanzvollbestanden hatte, wäre sein weiterer Bildungsweg um ein Haar gescheitert. Erst konnte seine Mutter das Schulgeld nicht aufbringen (freiwillige Spender im Dorf sprangen ein). Dann haperte es am Schuhwerk. Ein Paar Schuhe und lange Strümpfe wurden gefordert, und NgÅ©gÄ© bekam das Geld einfach nicht zusammen (eine seiner Schwestern sprang mit all ihren Ersparnissen ein). Die Internatsschule, an der der Sechzehnjährige schlieÃlich wohlbeschuht eintraf, sollte sich als die wichtigste Station auf seinem Bildungsweg erweisen â so wichtig, dass NgÅ©gÄ© seinen vier Jahren im «Haus des Hüters» einen ganzen Band seiner Erinnerungen gewidmet hat.
Die beiden Bände seiner Kindheits- und Jugendgeschichte bilden zusammen eine exemplarische Erfolgsstory der Selbstbefreiung aus kolonialer Bevormundung, Unfreiheit, Armut und Unterdrückung in eine postkoloniale Selbstbestimmung â ohne gewalttätigen Widerstand und blutigen Freiheitskampf, allein mit den friedfertigen Mitteln der Bildung und des christlichen Glaubens. Die Musterhaftigkeit, die der Grundschüler und erst recht der Internatszögling James NgÅ©gÄ© allezeit an den Tag legt, ist auch als politisch gemeintes Paradigma einer afrikanischen Erziehung am Ãbergang vom Empire in den Postkolonialismus zu verstehen. Und an diesem Ãbergang steht eine Leit- und Mittlerfigur, die NgÅ©gÄ© «Interpreter» nennt, was mit dem deutschen Wort «Hüter» nicht getroffen ist. Diesem Vermittler, einem wahren Welt-Eröffner, setzt NgÅ©gÄ© in seinen Jugenderinnerungen mehr als ein halbes Jahrhundert später ein eindrucksvolles Denkmal.
Der Hüter des Hauses, auf den sich der Titel bezieht, ist sein Schuldirektor an der
Alliance School
, ein in ganz Kenia berühmter Mann: der legendäre britische
Headmaster
Edward Carey Francis, der die Schüler mit militärischer Strenge zu Höchstleistungen anspornt, aber zugleich mit seinem kollegialen Führungsstil und der Gleichstellung von britischen und afrikanischen Lehrern die koloniale Apartheid unterwandert und so die künftige intellektuelle, politische und moralische Führungsschicht des späteren unabhängigen Kenia heranzieht und formt. Mehr als die Hälfte der Mitglieder des ersten kenianischen Kabinetts nach der Unabhängigkeit kam von seiner Schule.
Gegen die Grausamkeiten des Mau-Mau-Krieges bildet die Internatsschule von Carey Francis ein Refugium, einen sicheren Zufluchtsort, denn «die Bluthunde konnten nicht auf das Schulgelände vordringen». Schon die Bahnreise in diese Schule erscheint dem Sechzehnjährigen wie eine Fahrt ins Paradies, auch wenn er im Zug bloà die dritte Klasse («Nur für Afrikaner») benutzen darf. Während die Briten drauÃen im Land die Dorfbewohner, darunter auch seine Mutter, zwangsumsiedeln und in Konzentrationslager-Dörfern zusammenschlieÃen, um sie besser überwachen zu können, öffnen sich für NgÅ©gÄ© an der
Alliance School
neue Welten.
In seinen vier Internatsjahren verlaufen seine spirituelle, seine intellektuelle und seine politische Entwicklung parallel. Er hat
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