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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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wichtige Lese-Erlebnisse, macht Bekanntschaft mit der britischen Pfadfinderei von Lord Baden-Powell und hat Spaß an Pfadfinderlagern wie auch am Debattier-Klub, an der reichhaltigen Bibliothek und der Theatergruppe in seiner Schule. Zugleich verliert er das große politische Theater auf dem afrikanischen Kontinent keineswegs aus den Augen. Trotz der geordneten Welt der Bildung, Religion und Gemeinschaft, in der er zurückgezogen und geschützt leben darf, bleiben dem Internatszögling die politischen Umbrüche auf dem Kontinent nicht verborgen, von der Suezkrise 1956 bis zum allmählichen Zerbröckeln des British Empire, als die Briten einer Kolonie nach der anderen sukzessive die Unabhängigkeit gewähren (müssen), beginnend 1956 mit dem Sudan und 1957 mit Ghana.
    Kaum hat er die
Alliance School
mit großem Erfolg abgeschlossen und eine erste Stelle als Hilfslehrer an einer Grundschule angenommen, während er auf die Zulassung fürs
Makerere University College
in Kampala, Uganda, wartet (die Aufnahmeprüfung hat er bereits mit Auszeichnung bestanden), erfährt er noch einmal die ganze Härte des britischen Kolonialregimes am eigenen Leib. Im April 1959 wird er in einer Großrazzia willkürlich verhaftet, auf der Heimfahrt ins Dorf aus dem Bus geholt und landet wegen angeblichen Widerstands gegen die polizeiliche Festnahme im Untersuchungsgefängnis von Kiambu. Er wird vor Gericht gestellt und von den Polizisten mit falschen Zeugenaussagen schwer belastet. Da kommt Ngũgĩ sein rhetorisches Trainingim Debattier-Club des Internats zur Hilfe. Durch seine geschickte Fragetechnik kann er in der Gegenüberstellung mit den Polizisten diese falschen Zeugen der Lüge überführen und wird freigelassen.
    Mit dieser fast märchenhaft didaktischen Triumphszene endet der zweite Band von NgÅ©gÄ©s Kindheits- und Jugenderinnerungen. Gewidmet hat er sie seiner Klasse von 1958, denn diese war «ein grundlegender Bestandteil meines intellektuellen und seelischen Strebens». Von hier weg kann James NgÅ©gÄ© in festen Schuhen in die Welt hinaustreten, unterwegs vom GÄ©kÅ©yÅ© zum Kenianer zum Afrikaner zum Weltbürger. Diese Welteroberung ist an die Sprache geknüpft, das weiß NgÅ©gÄ© seit der Grundschule, und die Weltsprache ist Englisch.
    Zur englischen Sprache, der offiziellen Amtssprache in Kenia, hat NgÅ©gÄ© ein gespaltenes und widersprüchliches Verhältnis – und dieser Konflikt sollte ihn sein Leben lang begleiten. Er ist von Kindesbeinen an ein Grenzgänger zwischen der bäuerlichen GÄ©kÅ©yÅ©-Kultur seiner Familie und der Sprache, Schrift und Weltanschauung der britischen Kolonialherren. Einerseits ist Englisch die Sprache der Moderne, des Fortschritts, der Weltliteratur und der Teilhabe an der Welt; aber andererseits ist es zugleich die Sprache der Unterdrücker, der Kolonisatoren, die alle afrikanischen Sprachen außer Swahili, der zweiten Amtssprache in Ostafrika, aus der Öffentlichkeit verbannten und Literatur in diesen Sprachen negierten.
    Sein Vater Thiong’o konnte vielleicht drei Worte Englisch, die er einst von einem britischen Arbeitgeber aufgeschnappt hatte – «bloody fool», «nigger» und «bugger». Der Sohn hingegen macht die englische Sprache sofort zu seinem Arbeitsinstrument. Seine ersten Kurzgeschichten, die er während des Studiums an der Makerere-Universität in Kampala und an der nordenglischen Universität Leeds zu schreiben beginnt, sind auf Englisch und erscheinen in London unter dem Titel «Secret Lives» (deutscher Titel: «Verborgene Schicksale»). Auch alle seine frühen Romane – «Weep Not, Child» (1964), «The River Between» (1965), «A Grain of Wheat» (1967) – sind auf Englisch geschrieben. Doch ab den späten 1960er Jahren – NgÅ©gÄ© unterrichtet inzwischen als Dozent an der Universität von Nairobi – beginnt er, sich immer deutlicher und schließlich radikal von allem Englischen zudistanzieren und tritt immer entschlossener für die genuinen afrikanischen Sprachen ein. Eine Rückbesinnung auf seine afrikanische Identität hat eingesetzt.
    Das hat auch biographische Gründe; es hängt mit NgÅ©gÄ©s Versuch zusammen, in seiner Heimatgemeinde ein afrikanisches Volkstheater zu etablieren. 1977 schrieb und inszenierte er mit kenianischen Arbeitern ein Theaterstück auf GÄ©kÅ©yÅ©:

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