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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Roman (A1 Verlag 2011)
    Â«Im Haus des Hüters. Jugendjahre» (A1 Verlag 2013)

4. Kapitel
Arrival City
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Toronto
    Migranten sind Experten für den «Dritten Raum». Wenn sie aufbrechen und ihr Land hinter sich lassen, egal, ob als Flüchtlinge und Asylsuchende, als Arbeitsnomaden oder Armutsmigranten auf der Suche nach einem besseren Leben anderswo, dann können sie zwar zumeist nicht wissen, wo sie letztlich landen werden und welche Stadt ihre
Arrival City
, ihre Ziel- und Ankunftsstadt, sein wird. Eines jedoch ist ihnen gewiss: Was sie zunächst erwartet, ist der Zwischenraum. Dieser «Dritte Raum» ist die Transit-Zone, die auf der Durchreise passiert werden muss. Migranten hängen erst einmal in der Luft – und das bildet eine ihrer zentralen Erfahrungen in der globalisierten Gegenwart. Das kann Angst machen, kann Unsicherheit und Desorientierung bedeuten. Das kann aber auch als Moment größter Freiheit erlebt werden. Die Transit-Zone ist der Ort, an dem – zumindest potenziell – Wege in alle Richtungen offenstehen. Vielleicht stellt der «Dritte Raum» ohnehin den stimmigsten Ort der migrantischen Moderne dar.
    Den maßgeblichen Roman über das Leben im Transit hat David Bezmozgis geschrieben, der 1980 als Siebenjähriger mit seinen Eltern aus Lettland emigrierte, ohne genau zu wissen, wohin es ihn verschlagen würde – Hauptsache, irgendwohin in die freie Welt. «Die freie Welt» ist auch der Titel seines auf Englisch geschriebenen Debütromans von 2011. Darin erzählt er die Emigrationsgeschichte der achtköpfigen jüdisch-lettischen Familie Krasnansky aus Riga, die 1978, inden letzten bleiernen Jahren der Breschnjew-Ära, aus der Sowjetunion ausreist, ohne genaues Ziel im Westen.
    Bezmozgis legt nicht, wie bei Migrationsromanen allgemein üblich, den Fokus auf das Herkunftsland und auf das Zielland. Er thematisiert auch nicht wie zumeist die Assimilationsmühen von Migranten und deren Existenzkämpfe im neuen Zufluchtsland. Er nimmt vielmehr den Transit als solchen in den Blick, das prekäre Dazwischen auf der Schwelle, die das Woher vom Wohin trennt. Er konzentriert sich auf die fünf Monate, die die durchreisenden Krasnanskys im italienischen Transit verbringen, in Ostia und in Rom; sie suchen sich im Unterwegs häuslich einzurichten, während sie auf die Visa irgendeines Landes warten, das vielleicht willens wäre, sie aufzunehmen.
    Sie hatten die Vereinigten Staaten ins Auge gefasst, doch die USA fallen weg, nachdem eine Cousine in Chicago nicht wie versprochen für die Familie bürgen will. Australien wird als Zielland kurz erwogen, auch Sydney müsste sich doch als
Arrival City
eignen. Kanada, die dritte Wahl, macht Schwierigkeiten wegen Großvaters Gesundheitszustand. Und Israel ist zwar immer eine Option, aber eine ungeliebte und wenig attraktive. Als geeichte Sowjetbürger sind die Krasnanskys, obzwar Juden, antizionistisch konditioniert.
    Für die drei Generationen von Krasnanskys – Großeltern und zwei Söhne mit ihren Frauen sowie zwei Kinder – ist der Aufenthalt in und bei Rom ein Provisorium und ein Purgatorium zugleich. Es ist eine vorläufige Existenz von ungewisser Dauer, aber auch ein Fegefeuer, in dem der Charakter und die Überzeugungen und Absichten jedes Einzelnen getestet werden. Da die alte Heimat aufgegeben wurde und eine neue sich noch nicht sicher abzeichnet, stellen die Migranten selbst füreinander die einzige Heimat dar. Ihre Zuverlässigkeit und die Tragfähigkeit ihrer Bindungen untereinander werden hart geprüft. Unter diesem Belastungstest können feine Haarrisse in ihrem Zusammenhalt, die vielleicht schon vorher unsichtbar existierten, plötzlich weit aufklaffen. Andererseits sind diese Übergangsmonate aber auch die Zeit der größten Freiheit; Bewegungen in alle Richtungen scheinen möglich. Letztlich ist es der Zufall, der sie irgendwohin verschlagen und ihr weiteres Leben bestimmen wird.
    Als sie in Ostia landen, sind die Krasnanskys noch verstört von den erniedrigenden Prozeduren, denen sie von den sowjetischen Zöllnern bei der Ausreise aus der Sowjetunion unterzogen wurden; andererseits sind sie wie betäubt und geblendet vom Warenglanz der westlichen Konsumwelt, die sie ringsum anfunkelt, und wie überwältigt von der sexuellen Freiheit des Westens, die ihnen in den ersten Pornofilmen ihres Lebens vor Augen

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