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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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tritt. Beim Betrachten solcher Filme geht den Männern erstmals das ganze Ausmaß ihrer Entbehrungen in der Sowjetunion auf, und sie schlussfolgern erbittert: «Wenn russische Männer griesgrämige und aggressive Trinker waren, dann deshalb, weil ihnen anstelle von gesunden Formen der Entspannung Zeitungsberichte über heldenhafte Frauen vorgesetzt wurden, die Auszeichnungen für ihre Erfolge in der Molkerei bekamen.»
    In Ostia und in Rom findet sich die Familie Krasnansky unter lauter ebenfalls staatenlosen Juden, die auch von jüdischen Hilfsorganisationen betreut werden und ihre Tage gleichfalls mit Schlange-Stehen vor Konsulaten, Formular-Ausfüllen, Englischlernen und Warten verbringen, wenn sie nicht gerade auf den Flohmärkten ihren mitgebrachten Krempel loszuschlagen versuchen. Sie knüpfen neue Bekanntschaften, treffen alte Bekannte aus Riga wieder, tauschen sich über die Vor- und Nachteile prospektiver Zufluchtsländer aus und schlittern in dubiose Beziehungen hinein, teils mit fatalen Konsequenzen.
    Die Stagnation, in der die Krasnanskys von Juli bis November 1978 verharren müssen, lässt auch den Roman auf der Stelle treten. «Die freie Welt» ist keine dynamische Erzählung, vielmehr eine episodische, multiperspektivische Chronik aus einem Zwischenreich. Von einem Plot, der die Handlung vorwärtstriebe, kann ebenfalls kaum die Rede sein. Schließlich geht es um das provisorische Leben im Warteraum.
    David Bezmozgis hat ein feines Gespür für die absurden Situationen im Warteraum Italien. Sein komisches Talent äußert sich auch in hintersinnigen, selbstironisch aufgeladenen Dialogen. Sein Humor ist zurückhaltender als etwa das schrille Gelächter Gary Shteyngarts, eines anderen russisch-jüdischen Migranten und Sprachwechslers. Bezmozgisentwickelt aus dieser Warterei die Muße zu allerlei Rückblicken auf das frühere Leben der Familie Krasnansky in Riga. Wobei er sich bei seinem Familienporträt auf drei Blickwinkel und drei Perspektivfiguren beschränkt – auf den Großvater Samuel, auf den jüngeren Sohn Alec und auf dessen erst jüngst angetraute Ehefrau Polina. Polinas sorgenvoller Briefwechsel mit ihrer Schwester daheim in Riga zieht sich durch den ganzen Roman. Dabei entpuppt sich die Familie Krasnansky als ein Mikrokosmos der Sowjetunion in ihren verschiedenen Aggregatzuständen.
    Großvater Samuel ist sowjetisches Urgestein, ein dogmatischer Altkommunist, unerschütterlich in seiner Überzeugung trotz all der Schrecken und Verfolgungen, die er zu Hitlers und Stalins Zeiten als ukrainischer Jude in Lettland erdulden musste. Dass er seinerzeit seinen eigenen Cousin an den sowjetischen Geheimdienst NKWD ausgeliefert hat, bereitet ihm immer noch kein schlechtes Gewissen. Er fühlt sich ideologisch im Recht. Und im Grunde kann er sogar verstehen und ist damit einverstanden, dass er selbst von Genossen als Verräter denunziert und aus der Partei ausgeschlossen wurde.
    Solche ideologischen Krämpfe sind Samuels Söhnen Karl und Alec völlig fremd. Politische Dogmen, feste Meinungen überhaupt, haben sich bei ihnen zuerst verflüssigt, und sind dann völlig verdampft. Beide Männer sind Produkte des Tauwetters zur Chruschtschow-Zeit – ohne Bindungen, ohne Überzeugungen, ohne Loyalitätsgefühle für die Sowjetunion, geschweige denn für die Partei. Auch ihre Familiengefühle bleiben völlig unverbindlich. Während der ältere Sohn Karl in Rom sofort den Kapitalismus als seinen neuen Leitstern annimmt und sich ohne die geringsten Skrupel an Schwarzhandel, Ikonenschmuggel und anderen dunklen Geschäften beteiligt, lässt sich sein jüngerer Bruder Alec durch die Tage treiben, ohne Ehrgeiz, ohne Ziel und ohne tiefere Interessen – außer für hübsche junge Frauen, für die er stets ein waches Auge hat.
    Alec ist ein Hallodri und charmanter Windhund, der am liebsten herumkaspert und das Leben als Zeitvertreib betrachtet, dem er anders als unernst gar nicht begegnen kann. «Er war prinzipiell der Ansicht, dass die Welt wesentlich interessanter und gastlicher wäre,wenn jeder – ob Genie oder Schwachkopf – nach seinem Gusto herumwursteln konnte. ‹Mehr Freiheit zum Herumwursteln›, beschrieb exakt sein Motiv, die Sowjetunion zu verlassen.» In Israel beim Aufbau eines jüdischen Staates zu helfen, kann für diesen Anti-Idealisten keine

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