Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Verlockung sein. Alec und Karl suchen das Glück nicht in der Zukunft, sondern im Hier und Jetzt, am besten gleich im italienischen Transit.
Erst im Transit lernt seine Ehefrau Polina Alecs ganze Oberflächlichkeit, Unzuverlässigkeit und Verantwortungslosigkeit kennen. Ihre Beziehung gerät in eine so tiefe Krise, dass Polina ihn verlassen will und ernstlich überlegt, entweder nach Israel oder zurück nach Riga zu gehen. Der Bruch lässt sich nicht mehr kitten. SchlieÃlich folgt sie Alec doch in das Zielland, das sich ihnen eröffnet â letztlich nur, weil es dorthin ein Visum gibt. Doch ist Polina fest entschlossen, sich in der Ankunftsstadt sofort von ihm zu trennen. Für dieses Paar bedeutet die Freiheit der freien Welt vor allem Freiheit voneinander.
Die interessanteste Nebenfigur des Romans ist der Sowjetflüchtling Ljowa aus Moldawien, ein traumtänzerischer Lebenskünstler mit melancholischen Anflügen. Ljowa ist zunächst nach Israel emigriert, lieà aber dort seine Eltern, seine Frau und einen kleinen Sohn zurück und machte sich davon, weil ihm das Land nicht behagte. Nun sitzt er wieder in Rom im Transit fest, weil er nicht nach Israel zurückkehren möchte und kein anderes Land ihn nimmt.
Ljowa ist ein wahres Chamäleon des Identitätswandels: «In Kischinjow war ich Ljowa. In Israel war ich Arieh. Hier in Rom bin ich Luigi», sagt er. «Es ist eine ScheiÃwelt. Darf der Mensch sich da nicht mal amüsieren?» Im Gegensatz zu Alec ist Ljowa zwar leichtsinnig, aber nicht leichtfertig. Er treibt sich schon länger als ein Jahr in Italien herum, jobbt als Reiseführer und weià nicht recht, wohin. Zumal er als israelischer Staatsbürger keinen Flüchtlingsstatus mehr beanspruchen kann.
Womöglich ist Ljowa der modernste Charakter des Romans, der Mensch, der sich im permanenten Transit und in den Routinen des Reisens dauerhaft eingerichtet hat, pragmatisch, ohne Illusionen und frei von Bindungen: «Ich hab mich noch nicht von dem Gedanken verabschiedet,dass ich ein freier Mensch in der freien Welt bin.» Sein politischer Standpunkt ist definitiv postmodern und postideologisch, wenn er nach seinen Erfahrungen mit der Sowjetunion und mit Israel von sich sagt: «Bis jetzt war ich Bürger von zwei Utopien. Heute sind meine Erwartungen bescheiden. Im Grunde möchte ich in das Land mit den wenigsten Paraden.»
Dann sind die lang erwarteten Visa endlich da, die Tore zur freien Welt stehen offen. Der Roman endet mit dem Aufbruch der Familie Krasnansky ins Exilland Kanada. Toronto wird ihre Ankunftsstadt werden. Doch wie es den Zuwanderern dort ergeht, das erzählt David Bezmozgis anderswo â in seinem Geschichtenband «Natascha».
Toronto ist eine der klassischen Ankunftsstädte jeder Weltwanderbewegung und jeder Migrationswelle des 20. Jahrhunderts. Wie und weshalb Toronto, die Stadt am Nordufer des Ontario-Sees, für Hunderttausende von Zuwanderern aus allen Kontinenten zur Zielstadt wurde, das beschreibt der kanadisch-britische Autor und Journalist Doug Saunders in seiner weltumgreifenden Studie «Die neue Völkerwanderung â Arrival City». Er richtet sein Augenmerk auf die globale Menschenmassenverschiebung, die seit etwa einem Jahrhundert im Gange und noch lange nicht abgeschlossen, jedoch unumkehrbar und endgültig ist: die Landflucht, die Urbanisierung der Weltbevölkerung, ihre Verschiebung vom Landleben in die groÃen Städte.
«Die Menschen werden sich vom Landleben und der Landwirtschaft wegbewegen und in die groÃen Städte gehen. Wir werden gegen Ende des 21. Jahrhunderts eine ganz und gar urbane Spezies sein», prophezeit Saunders aufgrund der vorliegenden demographischen Daten: «Diese Bewegung umfasst eine bisher noch nie da gewesene Zahl von Menschen â zwei oder drei Milliarden, vielleicht ein Drittel der Weltbevölkerung. Es wird die letzte menschliche Bewegung in dieser GröÃenordnung sein.»
Statt diese gewaltige Landflucht als Menetekel auszumalen, richtet der Autor den Fokus auf die Chancen, die diese globale Völkerwanderung nach seiner Ansicht bereithält, etwa im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum. Er sagt voraus: «Die Veränderungen, die sie für das Familienleben mit sich bringen wird, von groÃen, von der Landwirtschaftlebenden Familienverbänden zu kleinen städtischen Kernfamilien, werden dem anhaltenden
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