Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
Vom Netzwerk:
Bevölkerungswachstum ein Ende bereiten.»
    Ãœberhaupt betrachtet Doug Saunders diese Umschichtung und Verstädterung der Weltbevölkerung angstfrei und nicht ohne Optimismus. Sein Hauptinteresse gilt naturgemäß dem rasenden Wachstum heutiger Ankunftsstädte in Asien, Afrika und Lateinamerika: Mumbai, Nairobi, São Paulo, Dhaka, Teheran, Mexico City, Kairo, Caracas, Istanbul, Chongqing oder Rio de Janeiro. An solchen chaotisch vor sich hin explodierenden städtischen Agglomeraten, deren Einwohnerzahlen sich nicht amtlich feststellen, sondern allenfalls grob schätzen lassen, kann man einerseits die Katastrophen einer schlecht verwalteten Urbanisierung studieren – menschliches Elend, revolutionäre Aufstände, bürgerkriegsartige Gewaltausbrüche. Andererseits setzt Saunders seine Hoffnung auf das Potenzial der Zuwanderer in diesen wuchernden Stadtrand-Slums: «Das sind meistens faszinierende, geschäftige, unattraktive, improvisierte, schwierige Orte, bevölkert von neuen Menschen mit großen Vorhaben. Diese Orte sind nicht nur die Schauplätze potenzieller Konflikte und Gewalttaten, sondern auch die Gebiete, in denen sich der Abschied von der Armut vollzieht, in denen sich die nächste Mittelschicht herausbildet und die Träume, Bewegungen und Regierungen der nächsten Generation entstehen.»
    An einer frühen Ankunftsstadt wie Toronto zeigt Saunders, wie eine kluge Stadtverwaltung diesen Übergang von Armutsmigranten zur neuen Mittelschicht organisieren kann. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sich die Armutszuwanderer aus Europa außerhalb Torontos an, in nicht kartographierten und keiner Verwaltung unterliegenden Gebieten, die heute längst zu Innenstadtbezirken Torontos geworden sind. Die armen Neuankömmlinge schufteten und sparten, bis sie billig ein Stückchen Land in der Einöde jenseits der Stadtgrenze kaufen konnten, wo sie sich aus Holzlatten, Pappe und Wellblech improvisierte Bretterhütten bauten. Bald wimmelte die Peripherie Torontos von nicht registrierten Siedlern in ungenehmigten Hüttendorf-Slums. Nach und nach wurden sie eingemeindet, die Stadtverwaltunglegte feste Straßen an und sorgte für städtische Dienste wie Kanalisation und Müllabfuhr.
    Entscheidend für die Entwicklung Torontos war, dass Regierungen und Banken die Besitzurkunden der Bewohner dieser selbst errichteten Unterkünfte anerkannten und sie damit zu Hauseigentümern auf eigenem Grund und Boden machten. Denn, so Doug Saunders, «Landbesitz eröffnet einen klar definierten Weg zu sozialer Stabilität und sorgt oft für die Entstehung einer tatkräftigen Mittelschicht, wenn die Regierungen zur Hilfeleistung bereit sind». Die Investition der Stadtväter Torontos machte sich bezahlt: «Das Ergebnis war ein extrem hoher Anteil sozialer Aufsteiger.»
    Das gelungene Urbanisierungsprojekt Toronto ist auch in die Literatur eingegangen. Es ist ein Zuwanderer der ersten Generation, gebürtig aus Sri Lanka, der das Preislied auf die unbesungenen Erbauer des modernen Toronto singt: Michael Ondaatje, der Lyriker, Dokumentarfilmer und Erzähler holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung, der sich 1962 mit neunzehn Jahren nach dem Schulabschluss in einem englischen Internat, seinem älteren Bruder in Kanada anschloss, in Toronto als Literaturwissenschaftler und Verleger zu arbeiten begann und seit vielen Jahren zwischen Toronto und Sri Lanka pendelt. Mit seinem Roman «In der Haut eines Löwen» (1987, auf Deutsch 1990) schreibt Ondaatje Stadtgeschichte von unten. Er erzählt die Umgestaltung Torontos vom verschlafenen Provinzstädtchen und Sitz der britischen Kolonialverwaltung zur modernen Metropole in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Malocher, der Bau- und Holzarbeiter, Sprengmeister und Tunnelgräber.
    Als
Arrival City
war Toronto von Anfang an ein Kulturen-Mix, eine buntscheckige und vielsprachige Stadt, ein Sammelbecken der Einwandererträume aus allen Nationen Europas. Vor allem Griechen, Mazedonier und Finnen waren an den Großbauten beteiligt, die nach den Plänen des visionären Stadtbaurats R. C. Harris (einer historischen Gestalt) Toronto seine moderne Prägung gaben. Ondaatje erzählt vom Bau des Bloor-Street-Viadukts, einer zweigeschossigen steinernen Straßen- und Eisenbahnbrücke, die bis heute die Innenstadt von Toronto mit den

Weitere Kostenlose Bücher