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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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östlichen Vorstädten verbindet, sowie von der Errichtung desWasserwerks mit seinem Tunnel unter dem Ontario-See. Er setzt mit seinem Roman jenen unbekannten Arbeitern ein Denkmal, die diese Bauten in den 1920er Jahren unter Einsatz ihres Lebens errichteten.
    Beispielsweise der Mazedonier Nicholas Temelcoff. Ondaatje stieß auf diesen Mann, als er im Archiv der
Toronto Multicultural Society
nach Material über die frühen Einwanderer in Kanada suchte, und baute diese reale Gestalt in seinen Roman ein. Temelcoff war ein Teufelskerl, der beim Brückenbau die waghalsigsten Jobs ausführte. Der Autor lässt ihn einmal sogar, frei schwingend an einem Seil, eine junge Nonne auffangen, die ein Windstoß von der Brücke gefegt hat. Die Nonne legt den Schleier ab – sie verbindet damit Temelcoffs gebrochenen Arm – und beginnt danach ein neues Leben unter neuem Namen. Sie gerät in Anarchisten-Kreise, tut sich mit einem finnischen Gewerkschafter zusammen, der unter den eingewanderten Arbeitern politisch agitiert, und wird selbst zur Aktivistin.
    So mischt Ondaatje in filmischer Short-Cut-Manier dokumentarisches Archivmaterial mit literarischer Erfindung und Lokalgeschichte mit Imagination und macht aus einer Stadtchronik einen poetischen Roman. Er kombiniert eine Handvoll zusammengewürfelter Außenseiter, Zuwanderer von überallher, zu einer Art Zufallsfamilie und verwickelt sie in ein dichtes Geflecht von Beziehungen untereinander. Seine unheroischen Romanhelden – Holzfäller, Bauarbeiter, Sprengmeister, Anarchisten, Gewerkschafter sowie der italienische Dieb Caravaggio – fackeln nicht lange; sie packen einfach an. Sie helfen einander freundschaftlich, springen ein, wo Not am Mann ist, politisieren sich aber auch, als ihnen ihre Ausbeutung bewusst wird. Sie haben inständige Vorstellungen von einem besseren Leben und davon, wie sie sich aus ihren Einwandererslums herausarbeiten wollen.
    Â«In der Haut eines Löwen» ist eine Hommage an die Einwandererstadt Toronto in ihrer Integrationsfähigkeit und ihrer Multikulturalität. Die Stadt erscheint als Schnittpunkt der Migrationsrouten von Binnenwanderern und Einwanderern, die in der Hoffnung auf verbesserte Lebensverhältnisse hierhergekommen sind. Toronto vibriert bei Ondaatje vor Dynamik und Energie; gleichwohl sieht der Autor Wachstum und Fortschritt durchaus kritisch und in aller Ambivalenz.Er problematisiert die offizielle Geschichtsschreibung, indem er ihr einen fiktionalen Gegenentwurf gegenüberstellt – die Erfahrungen derer, die den Preis für den Fortschritt zu zahlen hatten, jedoch bisher im öffentlichen Bewusstsein kaum vorhanden waren.
    Der Roman entstand zu einer Zeit, als in Kanada das Konzept nationalen Selbstverständnisses einer deutlichen Revision unterzogen wurde. Die alte Vorstellung, Kanada habe zwei Gründernationen, ablesbar an Englisch und Französisch als den beiden offiziellen Landessprachen, wurde abgelöst durch ein neues, erweitertes Konzept von nationaler Identität. Im Jahr 1988 wurde das Multikulturalismus-Gesetz erlassen, das die kanadische Bundesregierung beauftragte, «das Verständnis von Multikulturalismus als ein fundamentales Merkmal des kanadischen Erbes und der Identität Kanadas sowie als einen unbezahlbaren Schatz für die Zukunft Kanadas anzuerkennen und zu fördern».
    Das Gesetz wurde einem eigens geschaffenen Ministerium für Kanadisches Kulturerbe zur Umsetzung anvertraut und generiert bis heute eine Vielzahl von Förderprogrammen für Zuwanderer, um deren Integration zu erleichtern und gleichzeitig deren ethnisch-kulturelle Eigenheiten zu achten, um Diskriminierung zu bekämpfen und das gegenseitige kulturelle Verständnis zu fördern. Inzwischen ist eine ganze Generation junger Kanadier mit der Botschaft aufgewachsen, dass ethnische und kulturelle Vielfalt Teil der kanadischen Identität ist. So gesehen, ist «In der Haut eines Löwen» auch eine Art Mustertext zur symbolischen Anerkennung der kulturellen Vielfalt in der Ankunftsstadt Toronto.
    Drei Jahre nach Erlass dieses Gesetzes, 1991, traf ein 27-jähriger Libanese namens Rawi Hage in Kanada ein. Der Bürgerkrieg in Beirut hatte ihn als Achtzehnjährigen aus seinem Land vertrieben; danach hatte er sich in New York jahrelang als Taxifahrer und Fotograf durchgeschlagen, bis sein amerikanisches Visum ablief. Die frankophone kanadische Provinz Québec

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