Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
nahm den Emigranten schlieÃlich auf und gab ihm eine Aufenthaltsbewilligung. Er hatte Glück: Dass er als maronitischer Christ der Beiruter Mittelschicht entstammte, gebildet und dreisprachig war, begünstigte sein Aufnahmegesuch. Seither lebt RawiHage als freischaffender Künstler und Autor in Montreal. Er hat Englisch als seine Literatursprache gewählt.
In seinem ersten Roman «Als ob es kein Morgen gäbe» (De Niroâs Game) erzählt er die
Coming-of-Age
-Geschichte zweier halbwüchsiger Jungen in Beirut unter den Bedingungen eines Bürgerkriegs, der nicht nur ihre Freundschaft, sondern auch ihre Menschlichkeit ruiniert (siehe das Libanon-Kapitel in «Bürgerkriege und Zerfallsgeschichten»). Der zweite Roman von Rawi Hage, «Kakerlake», der 2008 erstmals erschienen ist, kann als eine Art Fortsetzung des Debütromans gelesen werden: Jetzt geht es um das Leben von Migranten nach ihrer Flucht aus ihren zerrütteten Herkunftsländern. Der Roman spielt in einer namentlich nicht genannten kanadischen
Arrival City
unter armen Einwanderern aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus dem Iran. Ob man die Stadt nun als Montreal oder als Toronto identifizieren möchte, macht keinen groÃen Unterschied: Rawi Hages Roman ist jedenfalls deutlich anders timbriert als das menschenfreundliche und anheimelnde Porträt, das Michael Ondaatje zwanzig Jahre zuvor vom solidarischen Zusammenhalt der Zuwanderer aus unterschiedlichsten Ländern in einer aufnahmebereiten Ankunftsstadt gezeichnet hatte. Inzwischen haben in Kanada konservative Regierungen die liberale Zuwanderungspolitik der 1980er Jahre wieder eingeschränkt.
Bei Rawi Hage ist die kanadische
Arrival City
nicht die multikulturell glänzende und multiethnisch einladende, offene Musterstadt, als die sie sich selbst wohl gerne sähe; der Leser bekommt es vielmehr mit einer winterlichen, dunklen, kalten und ungastlichen City zu tun, einer finsteren und nächtigen Unterwelt, in der Asylsucher aus wärmeren Weltgegenden gestrandet sind und nun frierend Unterschlupf suchen. Diese Kälte ist nicht nur klimatisch zu lesen, sie ist auch eine Metapher für soziale Kälte: Mit ihrer Frostigkeit und abweisenden Gleichgültigkeit macht die Stadt den Migranten gröÃte Schwierigkeiten, Fuà zu fassen. Die Zuwanderer fühlen sich unerwünscht, als seien sie Ungeziefer, das in den schäbigsten Winkeln herumkriecht. Für die Einheimischen sind sie so gut wie unsichtbar.
«Ich verfluche das Flugzeug, das mich in dieser unwirtlichen Gegend abgesetzt hat», klagt der Ich-Erzähler des Romans, ein namenloserund ethnisch uneindeutiger Bürgerkriegsflüchtling aus Nahost. «Niemand nickt einem in dieser kalten Stadt zu, niemand hebt die Hand zum GruÃ, kein Lächeln schaut unter den roten, schniefenden Rotznasen hervor. Nichts als tief unter Synthetikschals begrabene Köpfe und Hälse. Sie machten mich ganz nervös, und ich musste mich wieder einmal fragen: Wo bin ich hier eigentlich gelandet? Was mache ich denn hier? Wie bin ich nur in diese Falle geraten? Ich gehe durch eine erfrorene Stadt.»
Der Protagonist fühlt sich wohl auch deshalb besonders elend, unglücklich und unbehaust, weil er einige Traumata aus seinem Herkunftsland mit sich herumschleppt und bereits einen halbherzigen Selbstmordversuch hinter sich hat. Sein Gemütszustand schwankt zwischen Verzweiflung, Wut, Ressentiment, Neid, Missgunst und Rachsucht. Er sieht sich als völlig isoliert, als Outcast und Underdog, ähnlich einem anderen halb verhungerten Fremdling, dem einst durch die StraÃen im kalten, feindseligen Kristiania irrenden Helden von Knut Hamsuns «Hunger». Er haust frierend in einem schäbigen Kellerloch voller Kakerlaken und fühlt sich bisweilen selbst wie eine Küchenschabe (Die Kafka-Parallele zum Käfer Gregor Samsa liegt zwar auf der Hand, führt jedoch im Kontext dieses Romans eher in die Irre).
Immerhin leistet Kanada ganz im Sinne seines liberalen integrationsfreudigen Selbstbildes dem Helden staatliche Unterstützung â auÃer Sozialhilfe lässt ihm der Staat nach seinem Selbstmordversuch auch den Beistand einer Psychotherapeutin angedeihen. Ihr erzählt der Held in den wöchentlichen Therapiesitzungen Episoden aus seinem früheren Leben in dem Bürgerkriegsland, lauter schlimme Gewalterfahrungen, wobei schwierig zu unterscheiden ist, was Dichtung ist
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