Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
und was Wahrheit. Er berichtet ihr aber auch von Halluzinationen, die ihn plagen, besonders wenn er einen Joint geraucht hat: Dann imaginiert er sich als halb Mensch, halb Kakerlake. «Ich lag auf dem Bett und sog den unverdünnten Rauch ein. Mir wuchsen Flügel und ein paar zusätzliche Beine. Ich stand auf und suchte barfuà nach meinen sechs Pantoffeln. Dann stellte ich mich vor den Spiegel. Auch dort suchte ich etwas. Ich sah mein Gesicht, mein langes Kinn, die langen Fühler hinter dem Qualm. All die nackten FüÃe begannenzu scharren.» SchlieÃlich erzählt er ihr auch von den Raubzügen in die Häuser reicher Kanadier, die er als menschliche Kakerlake unternommen haben will â Neugier-Invasionen in die Privatsphäre der Einheimischen, aus der er ausgeschlossen ist.
Es bleibt unklar, was davon Halluzination ist, was Wunsch- oder Wahnvorstellung, was bewusste Irreführung der leichtgläubigen Therapeutin. Doch die Therapeutin interessiert sich ohnehin eher für das Verhältnis ihres Klienten zu seiner Mutter. Ihr Standardsatz «Das ist sehr interessant, da sollten wir dem einen oder anderen nachgehen, nächste Woche dann â¦Â» weckt im Helden nur Aggressionen. Er hat das Gefühl, dass alles, was er ihr erzählt, ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Ihre professionelle Zuwendung bleibt abstrakt und unverbindlich.
Das schwierige Gespräch zwischen beiden ist immer auch ein Machtkampf, ständig gefährdet von Missverständnissen, Ressentiments und Gesprächsabbruch. Das macht dieses therapeutische Gespräch so exemplarisch: ein Modell für die zwangsläufig fehlgehende Kommunikation zwischen dem Migranten und der Zuwandererbehörde, mit der er es zu tun bekommt. So gesehen, ist die Figur der Therapeutin eine Art Inquisitor: Sie ist die kanadische Repräsentanz gegenüber dem auf dem Boden kriechenden armen Migranten, der sich diesen Befragungen zu stellen hat und sich von einer letztlich verständnislosen Instanz beurteilen lassen muss.
Die staatliche Hilfe ist also nicht dazu angetan, den Ich-Erzähler positiv auf sein Gastland einzustimmen. Im Gegenteil. Er ist ein Dieb und Kleinkrimineller und wegen seines asozialen Verhaltens auch in Emigrantenkreisen herzlich unbeliebt: «Du bist verrückt und psychotisch und abgedreht, nicht mal als Dieb taugst du was», wirft ihm etwa der iranische Musiker Resa vor, ein migrantischer Leidensgenosse. Wie eine Kakerlake kriecht er in fremde Häuser hinein, schnüffelt darin herum und lässt Sachen mitgehen. Und wie eine Kakerlake ist er nicht nur ein etwas unheimlicher Schädling, sondern auch ein zäher Ãberlebenskünstler. Dass er sich als Ungeziefer fühlt, wendet er auch als seine Waffe gegen die beneideten und gehassten kanadischen Einheimischen. «Ja, ich bin ein Ungeziefer, eine Kellerassel, ich bin ganzunten. Aber ich bin da. Ich sehe der Gesellschaft in die Augen und behaupte mich: Ich bin hier, es gibt mich noch.»
Nicht so sehr die Schwierigkeiten mit der Integration in der Ankunftsstadt sind Rawi Hages Thema; ihm geht es in «Kakerlake» vielmehr um Armut und Entwurzelung; ihn interessiert, was sich unter dem Druck des Fremdseins bei den Zuwanderern daraus entwickeln kann. Die Sympathie des Romans gilt also nicht automatisch den Immigranten, bloà weil sie Immigranten sind. Die unterprivilegierten Fremden sind hier nicht von vornherein Sympathieträger. Ihr Unglück macht aus ihnen keine besseren Menschen. Im Gegenteil. Das Elend fördert bei ihnen auch Niedertracht, Unfairness und Verrat zutage. Sie verhalten sich untereinander oft unfair und unsolidarisch. Ihre schwierige Lage schweiÃt sie nicht zusammen, sondern bringt sie eher gegeneinander auf. Es herrschen Missgunst und wechselseitige Abneigung. Nicht wenige der Immigranten sind untereinander verfeindet. Unter den Iranern beispielsweise finden sich Opfer des Gewaltregimes, aber auch ehemalige Täter. So erkennt die junge Frau Shohreh, ein Folteropfer, ihren ehemaligen Folterer und Vergewaltiger aus dem Teheraner Gefängnis in einem der Restaurantgäste in Montreal wieder. Opfer und Täter haben noch einige Rechnungen offen.
Die ersten beiden Drittel des Romans verharren bei reiner Zustandsbeschreibung des unglücklichen Migrantenbewusstseins. Beim Ich-Erzähler verbinden sich Drogen-Halluzinationen à la William Burroughs mit einem Céline-haften Hass auf die
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