Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Bourgeoisie. Der Held bewegt sich vorwiegend in den Kreisen iranischer Asylanten. Er verliebt sich in die Iranerin Shohreh und arbeitet als Teilzeit-Aushilfskellner in einem iranischen Restaurant. Erst im letzten Drittel nimmt der Plot Fahrt auf: Der Held mischt sich nun in die inneriranischen Konflikte zwischen Opfern und Tätern ein. Auch ist er dank der Therapiesitzungen endlich so weit, seine eigene Feigheit und seine Mitschuld am Tod seiner Schwester in der alten Heimat widerwillig zu bekennen.
Gleichwohl ist «Kakerlake» kein realistischer sozialkritischer Migrantenroman. Seine grotesken und surrealen Züge überwiegen. Der missgünstige und misanthropische Blick des Helden auf seineLebensumstände und sein Wüten gegen die geistlose Arroganz der Mehrheitsgesellschaft führen gelegentlich zu krassen satirischen Verzerrungen. Rawi Hage bringt seinen Roman letztlich auf eine so drastische wie bittere Formel: «Abschaum sind wir, AusgestoÃene in einem groÃen kapitalistischen Experiment.»
Macht es einen Unterschied, ob man als Migrant allein ins Land kommt oder mit der ganzen Familie? Vergleicht man die Grundstimmung in Rawi Hages «Kakerlake» mit dem Geschichtenband «Natascha» von David Bezmozgis, dann ist es ein Unterschied ums Ganze. Der einsamen Wut eines gestrandeten Bürgerkriegsflüchtlings aus Nahost bei Hage steht bei Bezmozgis der entschlossene Anpassungsund Aufstiegswille einer Sippe russischer Juden aus Riga gegenüber, der es gelungen ist, sich aus der Agonie der Sowjetunion in den Westen abzusetzen. Diese Familie investiert ihre Energien nicht in kriminelle Machenschaften, Widersetzlichkeit oder selbstzerstörerische Rage, sondern in zukunftsorientierte Tatkraft und den unbedingten Willen, die Integration im neuen Land zu schaffen. Auf der Stilebene bedeutet das: schrullige Ethno-Komik statt schwarzer Groteske; menschenfreundlicher schräger Humor mit Lust an peinlichen Pannen statt abgründigem Selbst- und Menschenhass.
Es war zwar bei Bezmozgis nur die Asyl-Lotterie, die dieser Familie Kanada als ihr Einwanderungsland zugelost hat (es hätten ebenso gut Australien oder die Vereinigten Staaten sein können), doch als die Drei-Generationen-Sippe nach dem unfreiwilligen Halbjahr im römischen Transit, das wir aus dem Roman «Die freie Welt» kennen, in Toronto landet, trifft sie dort auf ein wohlorganisiertes Biotop, in dem sie sich aufgenommen und verstanden fühlen darf â eine sowjetjüdische Emigrantengemeinde, die Jiddisch, Hebräisch oder Russisch spricht, die Gebräuche einhält und koscher kocht, einander aushilft, in niemals endendem Klatsch übereinander herzieht und sich um die Synagoge und deren Rabbiner schart.
Vom Ankunftstag an arbeiten die Bermans, wie Bezmozgis seine Sippe in seinem Erzählungsband nennt, an ihrem Aufstieg. Penibel setzt der Autor die Signale, an denen dieser Aufstieg ablesbar ist: von der Autolosigkeit am Anfang über den Gebrauchtwagen, einen altengrünen Pontiac, zum roten Volvo; und von der Mietwohnung über die Doppelhaushälfte mit Auffahrt, Vorgarten und Hinterhof bis zum Einfamilienhaus am Stadtrand. Und der Vater bringt es vom FlieÃbandarbeiter in einer Schokoladenfabrik zum freischaffenden Massagetherapeuten.
Die Bermans haben mit der Familie des Autors so manche Eckdaten gemein. Am deutlichsten wird das beim Ich-Erzähler aller sieben Geschichten, Mark Berman, dem Sohn und Enkelsohn der Sippe. In der ersten Erzählung ist Mark sieben Jahre alt und genau wie David Bezmozgis selbst im Jahr 1980 ein Neuankömmling in Toronto. Im Laufe der Geschichten wächst er heran, spricht bald besser Englisch als die älteren Generationen und reift von Lausbubenstreichen über die Drogen- und Sex-Erfahrungen der stürmischen Pubertät eines Raufbolds bis ins junge Erwachsenenalter, in dem Mark die Balance zwischen seinem Judentum, seinem Russentum und seiner kanadisch-amerikanischen Identität gefunden hat, nicht viel anders als David Bezmozgis selbst, der als Filmemacher und Englisch schreibender Schriftsteller mit Diplomen zweier Universitäten heute immer noch in Toronto lebt â bestens integriert und preisgekrönt. Und natürlich steht sein Name 2010 auch auf der kanonischen Liste der Zeitschrift «New Yorker», die mit «Twenty under Forty» die zwanzig hoffnungsvollsten nordamerikanischen Autoren unter vierzig nominierte. David Bezmozgis
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